„Wir brauchen neue Heimstätten für Insektenflüchtlinge“
Naturschützer Paul Nothers warnt vor den massiven Folgen für das Ökosystem, wenn die Insektenpopulation weiter so drastisch abnimmt.
Paul Nothers ist graduierter Landwirt und setzt sich seit Jahrzehnten für Umwelt- und Naturschutz ein. Der Hülser war Mitglied im Umweltausschuss und ist unter anderem im Naturschutzbund (Nabu) und Entomologischen Verein Krefeld aktiv. Letzterem stellte er in den 1980ern als erstes sein Grundstück für Zählungen und Beobachtungen von Insekten zur Verfügung. 2014 brachte ihm sein Engagement das Bundesverdienstkreuz.
Herr Nothers, Sie leben auf Ihrem Hof in Hinterorbroich sehr im Einklang mit der Natur. Was hat sich in den vergangenen Jahren allein mit einem aufmerksamen Blick schon verändert?
Paul Nothers: Ich habe 1960 den Betrieb auf meinem Hof angefangen. Da gab es Insekten in Hülle und Fülle: Schmetterlinge, Fliegen, Mücken, Wespen. Heute können wir Pflaumenkuchen draußen essen und kaum eine Wespe will mitessen. Doch es sind nicht nur die Insekten, die weniger werden. Was besonders auffällt: Früher trällerten auf unseren großen Obstwiesen die Feldlerchen. Heute sind sie äußerst selten geworden - wie Schwalben oder Kiebitze. Das sind alles Dinge, die jeder in seinem Garten feststellen kann.
Das klingt, als gerate der ökologische Kreislauf im Ganzen aus dem Gleichgewicht und der extreme Rückgang der Insektenpopulation ist nur ein Indikator dafür. Worin liegt ihrer Meinung nach die Ursache für die Probleme?
Nothers: Eine große Rolle spielt der Einsatz von Herbiziden und Pestiziden, insbesondere Neonikotinoide und Glyphosat, in der Landwirtschaft. Das Problem ist gar nicht mehr vorrangig das Ausbringen an der Oberfläche, was mittlerweile ja auch zum Teil schon verboten ist. Das Saatgut wird bereits mit Neonikotinoiden gebeizt, also umhüllt. 90 Prozent der Gifte verbleiben in der Erde - nur zehn Prozent gehen in die Pflanze. Da die Stoffe wasserlöslich sind, vergiften sie nicht nur unseren Boden, wo sie Nützlinge wie Regenwürmer gefährden. Sondern können auch durch Verdunstung über die Luft weitergetragen werden. Das ist auch die Theorie der Entomologen. Sonst ist kaum zu erklären, warum selbst in Naturschutzgebieten wie dem Hülser Bruch der Insektenbestand so dramatisch zurückgegangen ist. Und die Gifte töten auch indirekt, indem sie das Immunsystem von Vögeln und Insekten angreifen und sie anfälliger für Krankheiten machen.
Wird denn bezüglich der Pflanzenschutzmittel nicht genug geforscht?
Nothers: Wenn es um die Zulassung geht, werden oft nur kurzfristige Auswirkungen der Stoffe berücksichtigt. Es wird generell auch noch zu wenig im Bezug auf Nachhaltigkeit und langfristige Folgen der Gifte geforscht. Neonikotinoide wirken schon in einer Dosis, die analytisch gar nicht mehr festzustellen ist. Früher sagte man, die Dosis macht das Gift. Das ist es aber nicht allein. Denn eine geringe Dosis ist auf lange Sicht genau so schädlich, wie eine hohe in kurzer Zeit. Es ist vergleichbar mit dem Verlauf einer Krebserkrankung beim Menschen. Ein schleichender Prozess.
Welche Rolle spielen die Landwirte?
Nothers: Man darf ihnen keinesfalls die Schuld geben. Denn sie sitzen in einer Zwickmühle. Im Zuckerrübenverband gibt es zum Beispiel große Monopolstrukturen. Dort bekommen die Landwirte nur Saatgut, das mit Neonikotinoiden gebeizt ist. Sie können nur in der Stärke der Konzentration wählen. Und hinter dem Ganzen stehen natürlich die großen Chemiekonzerne, welche die Pflanzenschutzmittel herstellen. Die Landwirte selbst sind gewillt, der beunruhigenden Entwicklung entgegenzuwirken. Aber dazu brauchen sie Hilfe.
Was müsste passieren?
Nothers: Was ich mir wünsche, ist, dass die Industrie ihre Kräfte bündelt und Mittel entwickelt, die zwischen Schädlingen und Nützlingen unterscheiden. Das sind doch allesamt große Player, die Chemiekonzerne, das schaffen die doch. Außerdem müssten Bauern für ihren Verdienstausfall entschädigt werden, wenn sie Greening betreiben. Also kleine Teile ihrer Ackerflächen in Blühstreifen umwandeln. Denn die Pacht der Böden ist exorbitant teuer. Wir brauchen neue Heimstätten für Insektenflüchtlinge, die von großen Agrarflächen vertrieben werden. Da muss die Politik auch mitspielen. Es darf aber nicht ums Verbieten gehen, sondern ums Belohnen. So funktioniert Erziehung.
Gegen das Bienensterben gibt es derzeit vermehrt Aktionen - selbst Discounter verschenken Samenmischungen für Bienenwiesen und setzen sich für den Erhalt der Insekten ein. Was halten Sie davon?
Nothers: Grundsätzlich ist es natürlich gut, dass etwas passiert und das Thema in die breite Öffentlichkeit getragen wird. Andererseits muss man sich auch fragen, wer sich da engagiert. Denn die großen Lebensmittelketten haben einen erheblichen Anteil an der Situation in der Landwirtschaft. Ein Landwirt aus der Region beliefert beispielsweise einen Discounter mit Salat. Er erzählte neulich, dass seine Ware abgelehnt wird, wenn auch nur eine Schnecke darin zu finden ist, weil die Kunden diese nicht akzeptieren. Das ist doch schizophren. Das setzt Landwirte natürlich massiv unter Druck.
Welche Auswirkungen hat das letztendlich auf uns Menschen - als Teil des Ganzen - wenn sich nichts ändert?
Nothers: Wenn wir die Bienen mit ihrer wichtigen Aufgabe der Bestäubung betrachten, muss man sagen, der Spruch „Stirbt die Biene, stirbt der Mensch“ stimmt nicht direkt. Aber jeder muss sich bewusst sein, dass wir Teil des ökologischen Systems sind. Wenn wir dieses zerstören, hat das Folgen für die Gesundheit. Vielleicht noch nicht für uns, aber für unsere Enkel allemal - ich habe neun. Und ich betone: Keiner weiß, welche direkten Folgen Neonikotinoide und Glyphosat, die wir beispielsweise über die Nahrung aufnehmen, auf uns Menschen haben.
Was kann jeder Einzelne tun?
Nothers: Zunächst einmal im Garten auf chemische Mittel verzichten. Dann muss man das Unkraut eben jäten. Wobei das mit dem Unkraut auch so eine Sache ist. Das stört nur uns - genau wie die Schnecke im Salat. Die Insekten nicht. Schmetterlinge lieben beispielsweise Brennnesseln. Jeder Garten oder Vorgarten sollte eine verwilderte Ecke haben, wo heimische Blühpflanzen stehen. Insekten mögen Dill, Lavendel, Salbei, Klee oder die einfache, nicht überzüchtete Feldrose. Auch Vögel sollten über den Sommer weitergefüttert werden, um Defizite im Nahrungsangebot auszugleichen. Wenn die Gesellschaft mithilft, können wir Inseln des Insektenglücks schaffen. Deshalb ist die Stadt mit ihren vielen Grünflächen ein sehr wichtiger Ort geworden. jam