Tazar wird nach Bulgarien abgeschoben

In Afghanistan wurde er von den Taliban bedroht. Nach Monaten auf der Flucht nun die Ernüchterung: Tazar Gull wird nach Bulgarien abgeschoben.

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Erkrath. Man merkt Peter Belitz an, wie betroffen er ist, als er seine Geschichte erzählt — die eigentlich weniger seine Geschichte ist als vielmehr die eines jungen Afghanen namens Tazar Gull. Eine Geschichte voller Bürokratie, Grenzen und enttäuschter Hoffnung.

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Für Belitz beginnt sie, als er während seiner Tätigkeit als ehrenamtlicher Betreuer bei der Diakonie Erkrath den 19-jährigen Gull kennenlernt und unter seine Fittiche nimmt. Zu diesem Zeitpunkt ist Gull bereits seit drei Monaten unterwegs. Im Juli beginnt er seine Flucht aus Afghanistan. Gull führt dort ein beschauliches Leben, er hat eine Frau und einen kleinen Sohn. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich mit Transporten für die Stadtverwaltung, dafür besitzt er einen eigenen Lastwagen.

Doch eines Tages finden ihn die Taliban. Sie wollen ihn dazu bringen, für sie zu arbeiten, illegale Transporte durchzuführen — für die Gull kein Geld bekommen wird. Er lehnt ab, wird verprügelt und verhaftet. Als er frei kommt, kleben an allen Häusern Zettel, auf denen steht, dass er ein Verräter und Spion für die Regierung sei. Ein Kopfgeld ist auf ihn ausgesetzt. Gull weiß, wenn er in Afghanistan bleibt, werden die Taliban ihn nicht in Ruhe lassen, ihn vielleicht sogar köpfen. Auch seiner Familie drohen sie. Gull bleibt keine Wahl: er taucht in Kabul unter, verkauft seinen geliebten Lastwagen für 12 000 Dollar. Geld, das er braucht, um die Schlepper für seine Flucht nach Deutschland zu bezahlen.

Seine Frau und sein Kind lässt er schweren Herzens zurück. Er will ihnen die Strapazen der Flucht nicht zumuten, glaubt, dass er sie in Deutschland einfacher nachholen kann. Er macht sich alleine auf den Weg in eine ungewisse Zukunft, auf eine ermüdende Reise, die ihn quer durch Europa führen und alles kosten wird, was er besitzt. Über den Iran, die Türkei und Griechenland schafft Gull es zur bulgarischen Grenze. Er versucht dreimal, diese zu überqueren, wird immer wieder zurückgeschickt. Das erste Mal werden Hunde auf ihn gehetzt, er wird mit Knüppeln verprügelt.

Das zweite Mal werden ihm sein Handy und sein Geld abgenommen — all das, was er so dringend für seine Flucht braucht. Beim dritten Versuch steckt man ihn ins Gefängnis. Auch hier wird er verprügelt, bekommt kein Essen. Er muss seine Fingerabdrücke abgeben. Ab jetzt ist Gull offiziell als Flüchtling registriert, Bulgarien gilt als das erste EU-Land, in das er eingereist ist. Ein Umstand, der ihm später zum Verhängnis werden soll.

Nach seiner Flucht aus dem bulgarischen Gefängnis setzt Gulls Erinnerung aus. Wie er es nach Deutschland geschafft hat, weiß er nicht mehr. Belitz vermutet, dass ein Trauma der Grund für Gulls Amnesie ist. Das Erste, woran er sich wieder erinnert: Ein Brand in Schöppingen, bei dem alle Unterlagen, die er sich in der Zwischenzeit wieder besorgen konnte, vernichtet werden.

Das Aufnahmelager in der Freiheitsstraße in Erkrath ist der erste Ort seit Monaten, an dem Gull sich erholen kann. Hier trifft er auf Belitz, der ihm hilft, schmiedet Pläne für die Zukunft. Bis zum 1. März. In den Morgenstunden dieses regnerischen Tages wird Gull von der Polizei abgeholt und nach Bulgarien abgeschoben. Denn Bulgarien gilt nach Beurteilungen des UN-Flüchtlingshilfswerks als sicherer Drittstaat: Wer dort als erstes einreist, muss auch bleiben. Für eine weitere Flucht nach Deutschland gebe es keinen Grund, so die offizielle Begründung. Wie anders die Realität aussieht, interessiert bei den Behörden niemanden. Denn auch wenn Bulgarien vielleicht sicher ist, sind die Lebensumstände dort unmenschlich.

ProAsyl und AsylNet machen darauf immer wieder aufmerksam. Wenn Gull Glück hat, bekommt er hier eine monatliche Unterstützung von 33 Euro. Selbst in einem so armen Land wie Bulgarien ist es unmöglich, davon zu leben. Eine Arbeit und eine Wohnung kann sich Gull nur durch Beziehungen oder Bestechung besorgen — doch er kennt niemanden und Geld hat er auch keines mehr. Zurück nach Afghanistan kann er auch nicht. Vielleicht wird er seine Frau nie wieder in die Arme schließen können, seinen Sohn nicht aufwachsen sehen. Gull ist allein in einem Land, in dem ihn niemand haben will. Als Belitz von der Abschiebung erfährt, ist es schon zu spät. In letzter Minute versucht er, Gull mithilfe eines Anwalts zurückzuholen. Doch der Versuch scheitert. Belitz hat nun nur noch per Mail Kontakt mit Gull — in seiner letzten Nachricht schrieb dieser, dass er seit zwei Tagen nicht gegessen habe und in einer schlimmen Unterkunft lebe. Wie es weiter geht, ist unsicher.