Nur Steckrüben gegen den Hunger
Es war der Sommer vor dem Steckrübenwinter und die Lage kompliziert. Zwei Jahre war der Krieg nun schon im Gange.
Haan. Die Stadt hatte mal wieder eine halbe Zeitungsseite voller Bekanntmachungen veröffentlicht. Und darin ging es eigentlich nur um eines: Wer darf sich wann und wo in die Schlange stellen, um sich ein Stück Fleisch, Brennspiritus oder ein Jungschwein zum Mästen abholen. Organisationstalent ist bekanntlich eine deutsche Tugend, die auch damals schon bemüht wurde. Sich einfach an eine Schlange anstellen? Ging gar nicht!
LotharWeller, Hobbyhistoriker
Stattdessen hatte man vorher seinen Bedarf anzumelden. Dafür gab es Termine, an dem man in Zimmer 5 des Rathauses vorsprechen konnte. Vermutlich gab es dort Listen, in die man sich einzutragen hatte. Denn nichts ist schlimmer als ungeplantes Chaos. Und das hätte es in Anbetracht der schwierigen Lage wohl durchaus geben können. „Es gab 150 Gramm Fleisch pro Person“, zitiert Lothar Weller aus der damaligen Tagespresse, als Anzeigen auf den Notstand hinwiesen.
Als Hobbyhistoriker kennt er sich gut aus mit den Umständen, unter denen auch die Haaner zu leiden hatten. Über die Tatsache, dass auf Seite eins der örtlichen Presse neben den Siegesmeldungen von der Front eine halbe Seite mit städtischen Bekanntmachungen zur Lebensmittelverteilung gefüllt war, schüttelt er den Kopf. „Es war ein karges Leben inmitten einer Mangelgesellschaft“, spricht er über einen Sommer, der später infolge einer Kartoffelmissernte in den noch viele Jahrzehnte danach gefürchteten „Steckrübenwinter“ münden sollte. Kartoffeln waren damals das wichtigste Nahrungsmittel. Schlange stehen — oder auch „Kettenstehen“, wie Heimatautor August Lomberg damals schrieb — war offenbar an der Tagesordnung. Dabei konnte man keineswegs kommen, wann man wollte. Oder sich womöglich gar schon Stunden vorher anstellen, um als einer der Ersten bedient zu werden.
Denn auch das stand vorher in der Zeitung: „Diejenigen, die letzte Woche von 10 bis 11 Uhr kaufen konnten, kommen diesmal eine Stunde später an die Reihe.“ Schummeln ging vermutlich nicht in einem kleinen Örtchen wie Haan, in man sich nur allzu gut kannte. „Was da nicht alles aus Steckrüben gemacht wurde“, berichtete Lomberg. „Marmelade, Pfannkuchen, Torten! ... Kein Wunder, daß der Steckrüben-Winter allen in übler Erinnerung geblieben ist.“ Listen lagen übrigens auch in Zimmer 10 des Rathauses aus. Dort hatten sich diejenigen einzutragen, die ein Jungschwein zum Mästen bestellen wollten. Die Ferkelpreise waren niedrig, für Kriegerfrauen zahlte die Gemeinde eine Beihilfe. Derweilen wurden in Zimmer Nummer 14 „Liebespakete“ abgegeben — für die deutschen Kriegsgefangenen.