Der Dicke Turm hat ein eisiges Geheimnis
Fünf Meter tief ist der Eiskeller im Turm. Einst schmorten dort die Gefangenen. Später kühlten dort die armen Bürger ihr Essen.
Ratingen. Erprobte Krimi-Leser wissen: Es gibt Orte, die prädestiniert für schaurige Verbrechen sind oder an denen Ergebnisse dieser Taten optimal zwischengelagert werden können. Der Eiskeller ist ein solcher Ort, an dem — sprichwörtlich — das Blut in den Adern gefriert. Aber weder rätselhafte noch abstruse Morde haben sich im Eiskeller des Dicken Turms zugetragen, weiß Karl-Heinz Dahmen. Er ist Ex-Baas der „Jonges“, inzwischen „Turmbaas“ und zusammen mit seinen Kollegen für besagten Ort zuständig.
HeinzDahmen, Turmbaas
Am 3. Februar 1862 ist dieser Raum von der kirchlichen Armenverwaltung St. Peter und Paul als sogenannter Eiskeller eingerichtet worden. „Das ist dokumentiert“, eine bleischwere Steinplatte mit entsprechender Inschrift ziert die sanft gebogene Wand. Auch die Maße weiß Turmbaas Dahmen aus dem Effeff, er misst acht Meter in der Breite sowie fünf in der Tiefe und hat seinen Namen wegen seiner vor allem an heißen Sommertagen als angenehm kühl empfundenen Temperatur. Was das Thermometer hier anzeigt? „Das haben wir noch nie gemessen.“ Das Backsteingemäuer, das diesen Raum nebenbei hübsch ausschauen lässt, ist nicht nur dick und fest und unüberwindbar — der Dicke Turm ist ursprünglich einer von 15 Exemplaren gewesen, die Ratingen umsäumten, um die Stadt zu schützen.
„Backstein hat die Eigenschaft, Kälte nach unten zu drücken“, weiß Karl-Heinz Dahmen. Ein Fachmann hat es ihm erklärt und bei einer Stippvisite der „Jonges“ nach Böhmen zu einer weltbekannten Brauerei konnten die Herren sich auch dort vor Ort von der speziellen Eigenschaft überzeugen. Im 19. Jahrhundert nutzte die Stadt den Stadtgraben zur Fischzucht und damit die Tiere im Winter nicht erfroren, wurde die Eisschicht abgetragen und in den Keller des Dicken Turms verbracht. Folgerichtig „durften arme Bürger hier ihre Essensvorräte bei besten Temperaturen lagern.“ Denn Kühlschränke, wie sie heute jede Küche komplettieren, waren noch nicht erfunden.
Und damit die kirchliche Armenverwaltung auch noch ein kleines Plus machte, verkauften sie das Kühleis an Wirte. „Mehr steht dazu im Kirchenarchiv nicht geschrieben.“ Verbrieft aber ist, dass der Eiskeller nicht immer Eiskeller gewesen ist. „Das war auch mal ein Kerker.“ Nicht viel Fantasie braucht es, sich vorzustellen, dass dort, wo jetzt Leuchten an der Wand angebracht sind, früher die Delinquenten in Ketten gelegt wurden. An der Stelle machen die „Jonges“ bei ihren Führungen oder am Tag der offenen Tür gerne ein bisschen Wörterkunde. Woher „einlochen“ als Synonym für „einsperren“ kommt, erklärt sich beim Blick auf das kreisrunde Loch in der Decke. Heute ist es ein Lichtschacht, durch den Tageslicht fällt. „Früher wurden in einem Käfig von oben die Schurken heruntergelassen.“ Auch der Begriff „einbuchten“ lässt sich leicht mit Blick auf den schmalen Gang, flaschenförmig wie eine Bucht, erklären. Ein Gitter vor der Tür hinderte die Schurken daran, einfach abzuhauen. Heute ist der Dicke Turm auf allen drei Ebenen fest in der Hand der „Jonges“. Sie haben das Bauwerk, in das es salopp gesprochen 500 Jahre ununterbrochen hereingeregnet hatte, in dem Tauben hinter dem 3,5 Meter festen Gemäuer nisteten und hausten sowie der Verfall voranschritt, von 2007 bis 2009 aufwendig restauriert und renoviert.