Dramatische Flucht endet in Sicherheit

Sherin Mustafa, ihr Mann und ihre Söhne kamen 2013 aus Syrien nach Deutschland — im Unterboden eines Autos.

Foto: Dietrich Janicki

Aram erzählt gerne — zum Beispiel von der Schule, in die er hier in Deutschland gehen darf, und von den Lehrern in Syrien, die streng waren und die Kinder auch geschlagen haben. Oder davon, dass er gerne Fußball spielt und später anderen Menschen helfen will. Doch wer den aufgeweckten Zwölfjährigen nach seinen Erinnerungen an den Krieg in seiner alten Heimat Syrien fragt, dem kann der junge, der ein akzentfreies Deutsch spricht, nicht antworten: „Daran kann ich mich nicht mehr erinnern“, sagt er und zieht sich eines der Sofakissen über das Gesicht.

Die alte Heimat ist Aleppo, jene Stadt in Syrien, die zu Beginn des Bürgerkrieges in aller Munde war. 2011 war das. Aram und sein kleiner Bruder Nihad lebten dort mit Vater Ahmed und Mutter Sherin. „Uns ging es finanziell gut, weil mein Mann und ich jeden Tag mindestens zwölf Stunden gearbeitet haben“, erzählt Sherin Mustafa von der Zeit vor dem Krieg. Das Schulgeld für die Kinder war teuer. „Aber wir hatten Glück, eine Nachbarin, die Lehrerin ist, kümmerte sich nach der Schule um Aram und Nihad.“

Ihr Blick geht zu Boden, der Besucher merkt ihr schnell an, dass die Gedanken auf eine tausende Kilometer entfernte Reise gehen. Ihr Eltern und ihre Schwester leben noch in Aleppo. Leben? „Arbeit gibt es dort keine mehr, auch die Schulen sind schon seit vielen Jahren geschlossen“, sagt Sherin Mustafa, die früher in einer Arztpraxis gearbeitet hat. An ein, zwei Tagen in der Woche hat sie Kontakt zur Familie, das ist alles, was an Verbindung zum alten Leben geblieben ist. Ob sie noch einmal zurück möchte?

Irgendwann, wenn Frieden ist? „Zu Besuch, aber mehr nicht. Ich möchte nicht noch einmal neu anfangen müssen.“ Als der Krieg ausbrach, wollten sie es aushalten. Doch es wurde immer schlimmer. 2012 folgten die ersten Überlegungen, die Heimat zu verlassen. Drei Brüder von Vater Ahmed leben in Ratingen, teilweise schon weit mehr als 20 Jahre. Doch die Flucht begann erst an einem Morgen im Jahr 2013. Militärflugzeuge flogen tief über Aleppo, Soldaten marschierten durch die Straßen. Eine Stunde Zeit hatte die damals noch vierköpfige Familie mit der im dritten Monat schwangeren Mutter, um alle Habseligkeiten in einen Koffer zu packen.

Es folgte eine Fahrt in ein Dorf in der Nähe der türkischen Grenze, dann weiter nach Norden. Die bulgarisch-türkische Grenze überquerte die Familie in einem siebenstündigen nächtlichen Marsch. „Mein Mann hat immer den Koffer auf dem Rücken getragen.“ Während die Mutter erzählt, macht Aram die Augen zu. Sein kleiner Bruder Nihat spielt mit der inzwischen 14 Monate alten Loreen.

Ob die Jungs sich noch an die Flucht erinnern? „Nein“, sagt Aram, „das ist alles weg.“ Und fügt dann leise hinzu: „Ich möchte nicht darüber sprechen.“ Verständlich, denn in Bulgarien wird die Geschichte noch dramatischer. Im Unterboden eines Autos versteckt sich die Familie, nahezu bewegungsunfähig, kaum Luft zum Atmen. 23 Stunden dauert die Fahrt bis nach Österreich — endlich in Freiheit. „Zwischendurch habe ich gedacht, wir schaffen es nicht“, sagt die Mutter. Das ist bald zwei Jahre her. 24 Monate, in denen viel passiert ist, in denen die Familie über Oldenburg nach Ratingen in die Nähe der Verwandten kam. Einer von ihnen betreibt eine Pizzeria in der Innenstadt. Hier macht Sherin seit einigen Tagen ein Praktikum, denn ihr Sprachkursus beginnt erst nach den Osterferien: „Vom Zuhausesitzen lerne ich die Sprache nicht. Ich muss unter Menschen sein.“ Ihre Söhne haben das Problem nicht. Nihad besucht die zweite Klasse der Karl-Arnold-Schule, sein älterer Bruder die Flüchtlingsklasse am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium: „Am liebsten mag ich Sport. Ansonsten finde ich es da manchmal langweilig, weil die anderen noch nicht so gut Deutsch sprechen“, sagt der Zwölfjährige, der gerne Klavier spielt. Bei der städtischen Musikschule steht er auf der Warteliste. Aram geht gerne zum Unterricht: „Ich finde es nur sehr schade, dass ich noch keine deutschen Freunde habe“, sagt er. „Ich schon“, freut sich sein achtjähriger Bruder: „Wir spielen oft Fußball.“