Ratingen: Zu Besuch beim Lebensretter

Marcel Schwarz ist in der Neujahrsnacht von einer S-Bahn überrollt worden. Jürgen Saemisch rettete dem 20-Jährigen das Leben, weil er dessen Hilferufe gehört hatte.

Ratingen. Als Marcel Schwarz von seinem Lebensretter Jürgen Saemisch in dessen Wohnzimmer an der Raiffeisenstraße rollt, kann er seine Tränen nicht mehr unterdrücken. Das riesige Fenster gibt den Blick frei auf die Gleise der S-Bahn. Auf der anderen Seite der Schienen hatte der 20-Jährige vor drei Monaten in einer klirrend kalten Neujahrsnacht gelegen und um sein Leben gekämpft - als die meisten Menschen ihren Rausch nach einer feucht-fröhlichen Silvesterparty im warmen Bett ausschliefen. Marcels rechtes Bein ist von einer Lok abgerissen worden, sein linker Ellbogen ist zerstört, seine linke Kniescheibe zerschmettert. Heute darf er die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik in Buchholz in Begleitung seines Vaters Ralf Schwarz zum ersten Mal seit dem Unfall verlassen.

Ein Unfall muss es gewesen sein. Das vermutet auch die Staatsanwaltschaft, die das Ermittlungsverfahren erst Ende März eingestellt hat. Doch wie es geschehen ist, das wird vielleicht immer im Unterbewusstsein des Unfallopfers verborgen bleiben. Ein Schutz der Psyche.

Marcel kann sich nur noch an den Rutsch ins neue Jahr bei Freunden auf einer Fete in der Straße am Kaiserberg erinnern: Schon eine halbe Stunde nach Mitternacht beenden die Eltern die Feier. Nicht etwa, weil zu viel Alkohol im Spiel gewesen wäre. Marcel Schwarz hat nur 0,5 Promille im Blut, als er nach seiner Rettung ins Krankenhaus eingeliefert wird. Keine Spur auch von Drogen.

Auch Jürgen Saemisch schaut in der Silvesternacht nicht zu tief ins Glas. "Wir sind super reingekommen und haben Gott sei dank nicht viel getrunken." Drei Stunden nach der Heimkehr von den Freunden schreckt der Inhaber einer Installationsfirma in Ratingen-Süd aus dem Schlaf hoch. "Um 6.20 Uhr habe ich zum ersten Mal etwas wahrgenommen: einen Hilferuf." Doch den ordnet er der ausgelassenen Feierlaune der Freunde seiner Tochter Anna (20) zu, die nach einer Party im Gartenhaus schlafen. Um 6.50 Uhr ruft er nach erneuten Schreien die Polizei, die wenig später vor seiner Haustür steht. Skeptisch sind die Blicke der Beamten. Hat der Mann zu viel Alkohol getrunken? In dem Moment hallt es vom Bahndamm herüber: "Ich sterbe!"

Gegen 7.10 Uhr wird Marcel gefunden und verliert beim Blick auf die ersten Helfer das Bewusstsein. Gegen 7.30 sind alle Retter eingetroffen. Um 8.20 Uhr liegt er im OP der Duisburger Unfallklinik. Sein Bein wird gegen 8.15 Uhr gefunden. Doch die Helfer haben umsonst danach gesucht. Die Ärzte können es nicht mehr anflicken. Aber sie können sein Leben retten. Durch die eiskalten Temperaturen von etwa minus 8 Grad hat der 20-Jährige nach Aussage der Ärzte vermutlich überhaupt erst überlebt. Dadurch sei die Gerinnung verschlechtert und ein zu hoher Blutverlust verhindert worden.

Heute denkt Marcel schon wieder positiv: "Ich werde nie auf den Rollstuhl angewiesen sein", erklärt er selbstbewusst. Schon bald soll er eine erste Beinprothese bekommen. Und dann will er wieder voll im Leben stehen. Sportlich und beruflich. Seinem Vater hat er bereits von seinen Plänen berichtet. "Im Jahre 2012 fahre ich zu den Paralympics." Und so machte er sich schon mal mit den Zeiten in seinen Lieblingsdisziplinen Kraulen und Delfin vertraut, die versehrte Sportler so auf den Bahnen erzielen. Doch da musste Marcel erstmal schlucken: "Die Zeiten habe ich nicht mal erreicht, als ich noch beide Beine hatte."

Dafür wird es beruflich weitergehen. Seine Ausbildung als Schwimmmeister bei den Stadtwerken Ratingen hätte er in diesem Frühjahr abgeschlossen. Sein Arbeitgeber habe ihm aber schon signalisiert, nach der Reha im kaufmännischen Bereich eine neue Lehre aufnehmen zu können. Jetzt benötigt er noch eine neue Wohnung in Mettmann. "Dort leben fast alle seiner Freunde", meint der Vater. Bislang hat Marcel in der Kreisstadt in der dritten Etage ohne Aufzug gelebt. Das ist nun vorbei. .

Frühestens im Sommer könnte Marcel einziehen. Bis Juni etwa muss er noch mit anschließender Rehabilitation in Duisburg bleiben. Auch Jürgen Saemisch will sich weiter für den 20-Jährigen einsetzen und ebenfalls nach einer geeigneten Wohnung Ausschau halten.