Schmuckstück wird zum Wohnhaus
Das alte Rathaus in Neviges blickt auf eine lange Geschichte in einem bewegten Umfeld zurück. Bis zur Fertigstellung hatte die Verwaltung keine echte Heimat.
Neviges. Das Rathaus an der Wilhelmstraße, das derzeit zusammen mit der benachbarten Post aufwendig zu modernen Wohnungen umgebaut wird, wurde vor 131 Jahren fertiggestellt. Zuvor musste die Verwaltung jahrelang provisorisch untergebracht werden. „Nach dem Ausscheiden von Langenberg aus der Bürgermeisterei Hardenberg hatte der Bürgermeister seine Amtsstube in einem Wohnhaus angemietet“, stellt der Lokalhistoriker Gerd Haun fest, der auf einem Mietvertrag von 1883 verweist, in dem ein großer Gemeindesaal erwähnt wurde. „Das kann nur an der Tönisheider Straße 2 gewesen sein“, lautet seine Vermutung.
1886/1887 errichtete die Landgemeinde unter Bürgermeister Gerhard Paulsen auf einem Grundstück des Nevigeser Bauvereins an der Wilhelmstraße das Rathaus mit einer repräsentativen Front. „Das Gebäude war zunächst sehr schmal, 1901 kam ein Anbau an der Schaesbergstraße dazu, der heute noch als solcher an den unterschiedlichen Baumaterialien und Stil zu erkennen ist. „Bis zu Neugliederung wurde das Rathaus von der Stadtverwaltung Neviges genutzt, danach hatte die Stadt Velbert bis 2005 verschiedene Verwaltungsstellen dort untergebracht. Auf Anregung des Fabrikanten David Peters wurden nebenan in einem ähnlichen Stil die Post und die Sparkasse gebaut, die 1956 in das heutige Gebäude der Bücherei umzog.
Die Wilhelmstraße wurde zu Ehren von Wilhelm I. benannt, der nach der Reichsgründung 1871 in Versailles zum ersten deutschen Kaiser gekrönt wurde. Die neue Verkehrsachse entwickelte sich zu einem kommerziellen Schwerpunkt von Neviges.
Neben dem Rathaus und der Post entstanden auf der gleichen Straßenseite die Feuerwehr, die evangelische Schule und die Rektoratsschule (später Realschule) im alten Schulgebäude von 1878. Nur wenige Meter davon entfernt befand sich seit dem Jahr 1895 das Pius-Hospital, das spätere Elisabeth-Krankenhaus.
Gerd Haun, Historiker, über die Innenstadt von Neviges, die sich ab der Jahrhundertwende entwickelte
Auf der anderen Straßenseite entstanden um die Jahrhundertwende Wohn- und Geschäftshäuser mit gründerzeitlichen und Jugendstilfassaden. Beiderseits der Straße schlossen sich die Grünflächen des Kriegerdenkmals von 1870/71 und des 1926 angelegten Stadtgartens an, ferner in den 1920er Jahren das erste Kino, bekannt als „Urania-Theater“ und die 1928/29 erbaute Turnhalle, die spätere Stadthalle, in der ab 1935 Kulturveranstaltungen stattfanden. Neben öffentlichen Gebäuden zogen größere und kleine Geschäfte das Publikum an, darunter die SPD-nahe Konsumgenossenschaft „Vorwärts“ und das katholische Pendant namens „Wohlfahrt“, zwei Bäckereien, drei Malergeschäfte sowie eine Buchdruckerei, die seit 1879 die Neviges-Hardenberger Volkszeitung verlegte. „Das war ein neues Zentrum für Neviges und ein prachtvoller Anblick, in Velbert gab es so etwas nicht“, stellt Historiker Haun fest. Die schnurgerade Straße kam ab 1933 den Nationalsozialisten für ihre Aufmärsche sehr gelegen. „Das war für die Nazis die Paradestrecke schlechthin“, sagt Haun.