Vom Hitlerjungen zum Dissidenten
Im Wülfrather Gymnasium berichtet der Zeitzeuge Gerhard Laue von seiner Jugend während des Nationalsozialismus.
Wülfrath. Als im November 1938 die Synagoge in Erfurt brannte, verstand der damals zehnjährige Gerhard Laue die Welt nicht mehr. Was hatten diese Menschen getan? Warum durfte er nicht mehr zu Herrn Meier ins Schuhgeschäft gehen? Und wohin war der Hausarzt Dr. Nürnberger plötzlich verschwunden? Vielleicht kamen dem damals noch treuen Hitlerjungen hier schon erste Zweifel. Fester wurden diese erst ein paar Jahre später. Im Wülfrather Gymnasium erzählt der mittlerweile fast 90-Jährige vom Erwachsenwerden in der dunkelsten Zeit Deutschlands.
Gerhard Laue, Zeitzeuge
Es geht ihm auch darum, die Schüler verstehen zu lassen. Dabei versteht er selbst nicht, wie es damals so weit kommen konnte. Wenn aber die 16- und 17-Jährigen von heute nachvollziehen sollen, was passiert ist, hat er einen Rat. „Wenn ihr versuchen wollte, diese Zeit zu verstehen, dann vergesst all die Segnungen und Freiheiten, an die ihr euch heute so gewöhnt habt.“ Von Dauerberieselung spricht er — auch, wenn er an seine Einschulung denkt. Schon die stand im Zeichen des Hakenkreuzes. Die Lehrer trugen stolz ihre braunen SA-Uniformen. Dann erzählten sie im Unterricht den Sechsjährigen glühend vom Führer — und die glaubten, was sie hörten.
Nachmittags ging es dann, als Laue zehn Jahre alt war, zwei Mal pro Woche zur Hitlerjugend. Da habe es zuhause viel Ärger gegeben. „Den Eltern wurden bei ihrer Erziehung Grenzen gesetzt.“ Sein Vater habe nie akzeptieren wollen, dass ein 13-jähriger Gruppenführer der Hitlerjugend bestimmte, wann der Sohnemann nach Hause kommen konnte — und nicht eben der Vater. Dass seine Eltern gegen Hitler und das Regime waren, hat Laue erst sehr viel später herausgefunden. „Sie waren keine Widerständler. Sie haben sich still verhalten.“ Über ihre Einstellung gesprochen haben sie mit den Kindern nie. „Zu gefährlich.“
Erst als Laue mit 14 auf die Handelsschule ging, festigten sich seine Zweifel. Ein Ereignis, das dafür sorgte, war die Schlacht in Stalingrad. „Da habe ich mich gefragt, ob das wirklich alles richtig ist.“ Der früher noch so verehrte Hitler wurde in Laues Augen zum grausamen Tyrannen.
An der Handelsschule herrschte eine andere Stimmung als drumherum. „Die Lehrer dort waren sehr offen“, erinnert sich Laue. Die meisten von ihnen waren Kaufleute, hatten die Welt gesehen. „Die haben uns die große, freie Welt erklärt — und wir saßen im Gefängnis Deutschland.“ Ein paar seiner Klassenkameraden, darunter sein bester Freund und Banknachbar Karl Metzner, entschlossen, etwas zu tun. Heimlich hörten sie Feindsender, informierten sich und schrieben Flugblätter, die sie aus den Fenstern der Erfurter Straßenbahn warfen. Außerdem schrieben sie hitlerfeindliche Parolen an Hauswände, wie „Nieder mit Hitler“ und „Nieder mit den Nazis“. Laue selbst war nicht an den Widerstandshandlungen beteiligt. Doch sein bester Freund erzählte ihm alles darüber.
Schon nach wenigen Wochen wurden sie festgenommen. „Unser großes Glück war, dass wir noch unter 18 waren“, sagt Laue. Sonst wären sie wohl alle zum Tode verurteilt worden - wie die Geschwister Scholl und die „Weiße Rose“. Zwei der fünf Schüler wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt, der Rest kam wieder frei. Laue verließ später seine Heimat und zog nach Wuppertal, wo er ein Textilunternehmen gründete. Immer wieder geht er in Schulen, um von seinen Erlebnissen zu erzählen. Was damals in Deutschland passiert ist, findet er noch immer unbegreiflich. Er glaubt: Auch an der heutigen Jugend würde so eine politische Dauerberieselung nicht vorbei gehen. Doch es sei wichtig, stets zu hinterfragen und über Gehörtes nachzudenken.