Neersen: Turnerbund wurde vor 125 Jahren gegründet Vom Turnen zum Breitensport

Neersen · Vor 125 Jahren wurde der Turnerbund Neersen von 53 Männern „mit unbescholtenem Ruf“ gegründet.

 Turnerbund Vorsitzende Hedy Schinken (hinten) beobachtet die Lockerungsübungen der Trampolinspringerinnen in der Niershalle.

Turnerbund Vorsitzende Hedy Schinken (hinten) beobachtet die Lockerungsübungen der Trampolinspringerinnen in der Niershalle.

Foto: Reimann, Friedhelm (rei)

Aurelia und Tammy machen große Sprünge. Die beiden neun und zehn Jahre alten Mädchen trainieren montags in der Niershalle in der Trampolingruppe von Cora Ingenpaß. Fürs Pressefoto ist ihr Aufwärmprogramm auf dem Hallenboden kürzer ausgefallen als üblich. Jetzt hüpfen sie abwechselnd in die Höhe, federleicht, die Körper gestreckt. Wie viel Spaß sie an der Bewegung haben. Sehr zur Freude von Hedy Schinken, der 1. Vorsitzenden. Sie war etwas jünger als diese Mädchen, als sie vor 60 Jahren zu ihrer ersten Turnstunde in Neersen ging. Heute blickt Hedy Schinken persönlich auf 40 Jahre Vorstandsarbeit im Neersener Turnerbund (NTB) zurück. Seit zwölf Jahren führt sie den Verein, in dem auch ihr Großvater und Großonkel einst tonangebend waren.

Erst 1927 traten
Frauen dem Verein bei

Mit ihrem Vizevorsitzenden Udo Lepke und Geschäftsführer Thomas Niehaus schaut Hedy Schinken in diesem Frühjahr 2019 auf das bemerkenswerte Jubiläum des Vereins, den Generationen in Neersen mitgetragen und -entwickelt haben. Ob sich Tammy und Aurelia dessen bewusst sind? Dass sie mit dem Neersener Turnerbund in einem Verein Mitglied sind, der in wenigen Tagen sein 125-jähriges Bestehen feiert?

Gegründet am 24. Februar 1894. Damals dürften die Ur-Ur-Ur-Ur-Omas der beiden Teenager gelebt haben. In der Gründungszeit des Vereins war gerade erst das Motorrad erfunden worden. Es fuhren noch keine Autos, sondern Fuhrwerke über die Hauptstraße. Das Spiel „Mensch ärgere dich nicht“, das heute jedes Kind kennt, war zu der Zeit noch gar nicht erfunden.

Eifer und Spaß daran, Sport zu treiben, war damals aber genauso ausgeprägt wie bei den jungen Trampolinspringerinnen heute. Tausende Sportbegeisterte waren seitdem in Neersen aktiv. Zunächst nur Männer als Turner. 1927 traten die ersten Frauen dem Verein bei. Jahrzehnte später wurde das sportliche Angebot auf Ballsportarten, Tennis und Radsport ausgeweitet.

Mit Fabian Vogel hat man sogar einen Trampolin-Weltmeister im Synchronspringen mit NTB-Erfahrung. Vogel trainiert mittlerweile im Leistungszentrum Bad Kreuznach, hat aber schon in seinen aktiven Jahren in Neersen hart für sein Ziel, einmal bei den Olympischen Spielen dabei sein zu können, geackert.

Über die Geburtstunde des NTB ist laut Vereinschronik dies bekannt: Carl Edelbruck, ein Mann aus Elberfeld, hatte offenbar Anfang 1894 im damaligen Restaurant „Auf dem Wall“ von seinen Erlebnissen im Elberfelder Turnverein erzählt, vielleicht geschwärmt. Jedenfalls hatte er damit etliche junge Neersener so begeistert, dass bereits eine Woche später am selben Ort der Turnverein gegründet wurde. In die erste Mitgliederliste trugen sich 53 Männer ein. Joh. Tichler wurde erster Vorsitzender, Edelbruck übernahm das Amt des Turnwarts.

Wer Mitglied werden wollte, musste mindestens 17 Jahre alt sein und „einen unbescholtenen Ruf“ haben. Der Turnbetrieb wurde aufgebaut, erster Übungsraum war mangels Halle und Saal zunächst ein Billardzimmer oder ein Hof.

Verbrüderungsfest anlässlich
der Fusion mit Germania

Die wechselvollen 125 Jahre des Vereins sind mit Auf- und Abstiegen, Unterbrechungen und Neuanfängen gespickt. In den ersten Vereinsjahren konkurrierte man mit Germania, einem zweiten Verein im Ort. Der damalige Spitzenturner Adolf Bleeck machte sich für die Fusion stark. 1906 wurde Verbrüderungsfest gefeiert. 1910 wurde eine erneute Gründungsveranstaltung nötig. Die beiden Weltkriege bedeuteten für das Vereinsleben starke Zäsuren. Ende 1945 zählte der NTB noch 73 Mitglieder. Der Turnbetrieb wurde in der alten Reithalle von Schloss Neersen wieder aufgebaut.

Der Bau der Schulturnhalle an der Pappelallee, für den der Verein das Nutzungsrecht bekam, gab Auftrieb. Vor allem aber die Eröffnung der Niershalle 1971, der sich, wie der ehemalige Vorsitzende Kurt Wahlefeld einmal sagte, eine „stürmische Entwicklung“ anschloss. Im 100. Jahr des Vereinsbestehens gehörten dem NTB 1255 Mitglieder an.

Heute fühlt sich der Neersener Turnerbund dem Breitensport verpflichtet (s. Kasten). Das Vereinsleben steht in Konkurrenz zu Fitness-Studios, langen Schulzeiten und dem Trend, dass sich immer weniger Menschen langfristig an Vereine binden wollen. Über die Begegnungsstätte in Neersen kommt es aber immer wieder zu neuen Angeboten.

Der 125. Geburtstag fällt deutlich kleiner aus als der vor 25 Jahren: „Wir machen am 8. März eine Jubiläumsfeier“, sagt Schinken. Sie wird 70 Gäste begrüßen. Udo Lepke arbeitet heute im Archiv weiter an seiner Rede, in der er auch die jüngsten 25 Jahre des NTB Revue passieren lässt.

Die Zeit nach 2015 zum Beispiel, als der Sportbetrieb in der Niershalle ein Jahr lang pausierte, weil die Stadt Willich sie für die Unterbringung von Flüchtlingen nutzte. Schinken: „Die anderen Willicher Vereine haben uns damals unterstützt, wo sie konnten.“ Als die Halle wieder frei wurde, sei sie nach einer einwöchigen Renovierung erneut für den regulären Betrieb zu nutzen gewesen. „Es war so gut wie nichts kaputt gegangen“, sagt Hedy Schinken.

Mit ihren 60 Vereinsjahren steht die Turnerin, die bis vergangenes Jahr noch Volleyball gespielt hat, nicht an der Spitze der Mitgliedsjahre. Zwei Frauen, darunter eine aktive Tennisspielerin, sind bereits seit 70 Jahren dabei. Und Heinrich Kappertz, Jahrgang 1925, ist Mitglied seit 82 Jahren. Sie könnten Aurelia und Tammy viele Vereinsgeschichten erzählen…