Missbrauch in der Kirche Interview „Ein letzter Weckruf für die Kirche“

Grefrath/Münster · Eine Studie belegt den sexuellen Missbrauch in der Kirche. Die WZ sprach mit dem Präventionsexperten Martin Wazlawik.

Der Grefrather Martin Wazlawik forscht zu Fragen der Prävention von sexualisierter Gewalt.

Foto: Marquard

Seit Jahren reißen die Schlagzeilen zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche nicht ab. Nun gibt es erstmals belegte Zahlen zum Umfang des Missbrauchs in Deutschland zwischen 1946 und 2014. Der gebürtige Grefrather Dr. Martin Wazlawik ist Experte in diesem Forschungsgebiet. Der 36-Jährige ist Diplom-Pädagoge und arbeitet als Hochschullehrer am Institut für Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Wazlawik ist in Grefrath aufgewachsen und war dort in verschiedenen Bereichen von (katholischer) Jugendarbeit tätig. Er arbeitet an der Universität Münster vor allem zu Fragen der Kinder- und Jugendhilfe, des Kinderschutzes und der Prävention von sexualisierter Gewalt. Die WZ sprach mit ihm über die jüngst veröffentlichte Studie.

Herr Dr. Wazlawik, laut der jüngst veröffentlichen Studie im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz gibt es bei „1670 Klerikern der katholischen Kirche Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger“– 4,4 Prozent aller Priester und Diakone aus dem untersuchten Zeitraum 1946 bis 2014. Die Verfasser sprechen von 3677 betroffenen Kindern und Jugendlichen. Haben Sie diese Zahlen in irgendeiner Weise überrascht?

Wazlawik: Nein, die Zahlen haben mich nicht überrascht. Aber sie erschüttern einen immer wieder. Man muss sich bei aller Wucht der Zahlen immer wieder vergegenwärtigen, dass wir von mindestens 3677 Menschen sprechen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben und zumeist erhebliche Folgen für ihr weiteres Leben davongetragen haben. Gleichzeitig sprechen wir von einer sehr kleinen Spitze des Eisbergs. Man darf sicherlich davon ausgehen, dass die realistischeren Zahlen in einem mindestens fünfstelligen Bereich liegen.

Wie bewerten Sie als Wissenschaftler, der sich seit Jahren mit dem Thema sexuelle Gewalt gegenüber Minderjährigen befasst, die Studie?

Wazlawik: Die Studie hat einen hohen Stellenwert, da sie sich der Beschreibung von sexualisierter Gewalt innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland als erste Studie systematisch widmet. Dafür gebührt den Kolleginnen und Kollegen Respekt. Insbesondere deswegen, da die Studie vieler Restriktionen und Begrenzungen seitens der Bistümer unterlag. Sicherlich gibt es, wie in jeder Studie, stärkere oder schwächere Teile, jedoch ist sie ein wertvoller Auftakt, dem weitere, systematischere und noch unabhängigere Aufarbeitungsstudien folgen müssen. So ist es dringend notwendig, sich nicht nur die Personalakten eines Teils der Bistümer bis 1946 anzuschauen, sondern von allen Bistümern und zwar durch eine unabhängige Kommission, die direkten Zugriff auf die Akten hat. Ähnlich ist es in den USA oder Australien ja bereits geschehen. Zudem müssen auch die (Frauen-)Orden und die Heimeinrichtungen etc. einbezogen werden.

Immer wieder wird betont, dass es sich um Schätzwerte handelt, die Dunkelziffer sehr wahrscheinlich höher liegt. Lassen sich in diesem Bereich überhaupt empirische Daten sammeln, die der Wahrheit zumindest nahe kommen?

Wazlawik: Die Zahlen in der Studie sind eine sehr kleine Spitze des Eisbergs. Da, wo es Hell- und Dunkelfelder gibt, wird man nie die eine absolute Zahl feststellen können. Dies liegt in der Natur der Sache. Jedoch können wir zum einen mit mehr Aufarbeitungsstudien der Dunkelziffer näherkommen. Zum anderen können wir durch sogenannte Prävalenzstudien, also durch Befragungen im „Dunkelfeld“, also beispielsweise von einer repräsentativen Gruppe zu einem bestimmten Alter, eine Prozentzahl von Betroffenen mit sexuellen Gewalterfahrungen erheben. Dazu gibt es gute und methodische adäquate Studien, die etwas unterschiedlich je nach Methode und Definition, aber im Grundsatz zu ähnlichen Häufigkeiten kommen. Um es plakativ zu machen: Allgemein und unabhängig von der Kirche sprechen wir im Schnitt von zirka ein bis zwei  Betroffenen von sexualisierter Gewalt pro Schulklasse.

Irland, USA, Deutschland – der Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche ist ein globales Problem. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Wazlawik: Die katholische Kirche ist eine Weltkirche. Und wenn es, wie die Forscher in ihrem Bericht erneut und anhand ihrer Ergebnisse beschreiben, systemische Ursachen für sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche gibt, dann wäre es ja erstmal verwunderlich, wenn es nicht ein globales Problem wäre. Die Studien beispielsweise aus den USA und die jetzige deutsche Studie ähneln sich stark in ihren Ergebnissen auch hinsichtlich der Mechanismen der Ermöglichung und der Vertuschung.

Was muss sich innerhalb der Kirche ändern, um Missbrauchsfälle zu verhindern – oder sie zumindest so schnell wie möglich öffentlich werden zu lassen?

Wazlawik: Die Studie hat auch für Deutschland formuliert, was man aber natürlich schon deutlich länger weiß. Nämlich, dass es bei sexualisierter Gewalt in erster Linie um die Ausnutzung eines Machtverhältnisses geht. Die Kirche wird nicht darum herumkommen, ihre Machtstrukturen in Frage zu stellen. Dazu gehört die Rolle von Bischöfen und Priestern, dazu gehört eine neue Struktur von Gemeindeleitung und Gewaltenteilung und vieles mehr. Es wird auch das Aufbrechen von männerbündnerischen Strukturen und endlich schnellere Verfahren und klarere Normen im Kirchenrecht dazugehören. Und man wird den Umgang mit Verdachtsfällen und Beschuldigungen dringend, auch mit weiterer externer Hilfe, professionalisieren müssen. Es ist ein Unding, dass 27 Bistümer in Deutschland sich zwar auf eine weit gefasste Rahmenordnung zur Prävention und Leitlinien zur Intervention verständigen. Die Umsetzung sich aber zwischen den 27 Bistümern massiv unterscheidet, da jeder Bischof seine eigene Sache machen will und der Wille zur Verständigung begrenzt scheint. In NRW haben sich die fünf (Erz-)Bistümer zum Glück wenigstens auf eine gemeinsame Präventionsordnung einigen können. Ich sehe zudem kein überzeugendes Gegenargument, warum die Kirche die Betroffenen nicht in ernsthafter Weise für die Folgen der Tat in ihrem Leben mit ernstlichen Summen entschädigen kann. Natürlich sind es große und im besten Fall die Kirche tief verändernde Fragen. Nur: Ohne eine Bearbeitung der Ursachen bringt alle gute und auch anerkannte Präventionsarbeit der Kirchen nichts oder nur wenig und wird den Relevanzverlust der Kirchen beschleunigen. Eine Kirche, die es aus Selbsterhaltungsgründen nicht schafft, die Ursachen und Bedingungen für sexualisierte Gewalt zu bearbeiten, wird in der modernen Gesellschaft keine ernstliche Rolle mehr spielen. Vielleicht ist dies ein letzter, schmerzhafter Weckruf. Die Zeit der routinierten Entschuldigung ohne ernsthafte Veränderungen ist jedenfalls vorbei.

Welche Rolle spielt denn eigentlich in diesem Zusammenhang das Zölibat – aus Ihrer Sicht?

Wazlawik: Mir ist wichtig zu betonen, dass das Zölibat an sich keine kausale Ursache für sexualisierte Gewalt ist. Das Bild von männlicher Sexualität, was hinter solchen Kurzschlüssen steckt, ist ziemlich unterkomplex. Viele Priester haben einen guten Weg für sich mit dieser Lebensform gefunden. Gleichwohl zieht die zölibatäre Lebensform auch Menschen in die Priesterseminare, die mit ihrer eigenen Sexualität nicht klar sind und sich erhoffen, sich damit nicht beschäftigen zu müssen. Das wird in der Regel nicht in guter Art und Weise gelingen. In Kombination mit Vereinsamung, unreflektierter Machtposition und Unzufriedenheit über die eigene Lebenssituation kann das Zölibat zu einem Risikofaktor werden. Hier muss man mit Kurzschlüssen sehr vorsichtig sein und hier wird man sicherlich auch weiter forschen müssen. Ebenso ist kein Generalverdacht gegenüber allen Priestern angemessen.

Welche anderen gesellschaftlichen Institutionen sollten aus Ihrer Sicht ebenfalls genauer untersucht werden? Wie sieht es mit Missbrauch im familiären Umfeld aus?

Wazlawik: Sexualisierte Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Thema und findet sich ebenso im familiären Umfeld. Die Unabhängige Aufarbeitungskommission, die der Bundestag eingesetzt hat, hat ja als erste Kommission weltweit nicht nur sexualisierte Gewalt in Institutionen, sondern auch in Familien in den Blick genommen. Ich warne allerdings davor, einzelne gesellschaftliche Bereiche gegeneinander auszuspielen.