Kempen Die Geschichten der Flüchtlinge
Die WZ hat in St. Hubert mit Menschen aus Syrien, Somalia, Mazedonien und Eritrea gesprochen.
St.Hubert. Mohammed aus Syrien ist elf Jahre alt. Ein kleiner Junge mit noch weichen Gesichtszügen. Doch sein Verhalten will nicht so recht zu der kindlichen Erscheinung passen. Ruhig und mit gefalteten Händen sitzt Mohammed am Tisch. Wenn er spricht — ob fließend auf Arabisch oder in gebrochenem Deutsch — dann spricht ein Erwachsener, kein Kind. Seiner Situation ist er sich völlig bewusst.
Nicht viel anders ist es bei den Mädchen Rafah (10) und Sahab (15), die wie Mohammed aus Syrien kommen, oder bei dem zwölfjährigen Alban aus Mazedonien. Das Erlebte, dieser Eindruck drängt sich auf, hat sie sehr früh reif werden lassen. Anders ausgedrückt: Es hat ihnen einen großen Teil ihrer Kindheit genommen.
Idomeni, Türkei-Deal, Höchstgrenze — über kaum ein Thema wird seit Monaten so intensiv geredet, geschrieben und berichtet wie über die Flüchtlingskrise in Europa, in Deutschland, auch in Kempen. Was aber sagen die Menschen, um die es dabei eigentlich geht? Die WZ hat sich in St. Hubert mit Asylbewerbern unterschiedlicher Herkunft getroffen, um sie nach ihren Erfahrungen, Wünschen und Hoffnungen zu fragen.
Was sich die Jüngsten unter den Flüchtlingen bewahrt haben, ist eine gewisse Offenheit und Neugier. Wer das Gelände der ehemaligen Johannes-Hubertus-Schule in St. Hubert betritt, bekommt den ersten Kontakt zu Kindern. Auch die Verständigung klappt mit ihnen oft am besten. Binnen weniger Wochen im Land haben sie sich einen beachtlichen deutschen Wortschatz zugelegt, manche können zudem Englisch. „Unser Haus steht nicht mehr“, erzählt Rafah, deren Familie aus Damaskus stammt. Ihr Vater sei noch in der Türkei. „Ich weiß nicht, ob er nach Deutschland kommt.“ Auch Mohammeds Familie hat ihre Heimat in Aleppo verloren, sie wurde im verheerenden Bürgerkrieg zerstört. „Wir sind sechs Leute“, sagt der Junge, der noch drei Schwestern hat. Seine Familie kam über die Türkei und Griechenland an den Niederrhein.
Ein deutsches Wort taucht in der Runde immer wieder auf: „Probleme“. Wegen „der Probleme in Syrien“ sei man geflohen. Die Rede ist von den Problemen Eritreas mit Äthiopien und von Problemen mit einer Miliz im Heimatland. Klar ist: Hinter diesem Alltagsbegriff verbergen sich Hass, Gewalt, Frustration.
Um all dem zu entkommen, haben sie sich in Richtung Europa aufgemacht, viele mit einem ganz bestimmten Ziel vor Augen. Sie habe von Anfang an nach Deutschland gewollt, sagt Leyla Abdor aus Somalia. Das Gespräch mit der 45-Jährigen ist mühsam, ihre Worte müssen gleich zweimal übersetzt werden: Von ihrer Muttersprache ins Arabische, dann ins Deutsche oder Englische. Es liegt auf der Hand, dass auf diesem Weg viel verloren gehen kann.
Manchmal hakt es aber auch an der Zurückhaltung, was die eigene Lebensgeschichte angeht. So wissen auch die ehrenamtlichen Helfer bislang nicht, wie Leyla Abdor mit ihrem Sohn den Weg vom Horn von Afrika bis nach Deutschland gemeistert hat — der 20-jährige Mohammed ist körperbehindert und sitzt im Rollstuhl. Inzwischen arbeitet ein Physiotherapeut mit dem jungen Mann. Der Wunsch der Mutter ist es, dass ihr Sohn eines Tages ohne Hilfe laufen kann.
Die 15-Jährige Sahab hofft auf ein besseres Leben in Deutschland. „In Syrien war es nicht gut“, sagt sie. Sie ist Deutschland dankbar, auch dafür, dass sie hier zur Schule gehen kann. Später würde sie gerne eine Universität besuchen. Der 28-jährige Alsaleh Tammam dagegen möchte eines Tages nach Syrien zurückkehren. „Aber erst, wenn ich etwas für Deutschland getan habe“, sagt er auf Englisch. Er möchte zurückgeben, was das Land ihm gegeben habe.
Was sagt er dazu, dass nicht wenige Deutsche den Flüchtlingen reserviert bis feindlich gegenüber stehen? Er habe keine Angst vor Übergriffen, betont der Syrer. Keiner am Tisch spricht von schlechten Erfahrungen in Kempen, auch die Kinder schütteln heftig mit dem Kopf. Sie haben Anschluss gefunden, waren bereits bei Schulfreunden zuhause.
Nur Alban bleibt lieber auf dem Gelände. Das sei schon okay, er könne ja Fußball spielen. Der junge Mazedonier weiß nicht, wie es weitergeht. Mazedonien gilt als sicheres Herkunftsland. „Ich hoffe, dass alles gut wird“, sagt der Zwölfjährige.