Fall wirft Fragen auf Misshandlungsvideo aus Kempen: Das sagt das Jugendamt zum RTL-Beitrag

Kempen · Erst Wochen nach der dokumentierten Qual werden Kinder aus einer Familie genommen. Die Verwaltung in Kempen spricht von „neuen Erkenntnissen“. Aber warum dauerte das Eingreifen so lange?

Gewalt gegen Kinder: Selten ist die Sachlage so gut dokumentiert wie durch das Video im vorliegenden Fall. Unser Bild ist aber ein Symbolfoto. 

Foto: Patrick Pleul

Der Privatsender RTL hat am Mittwoch in seiner Sendung Punkt 12 einen Beitrag veröffentlicht, in dem es um die Misshandlung zweier Kinder geht. Ein Handyvideo, das dem Sender zugespielt wurde, soll zwei Kinder zeigen, die von ihrer Mutter körperlich und psychisch gequält werden, während eine weitere Person filmt. Der Fall spielt in Kempen.

Das Video wurde offenbar weitergeleitet, mehrere Personen geben in dem TV-Beitrag an, das Jugendamt informiert zu haben – ohne eine für sie erkennbare Reaktion. Die Kinder – insgesamt leben drei Kinder in dem Haushalt – blieben weiter bei der Familie. Deshalb habe man sich ans Fernsehen gewandt. Einige Tage nachdem der Sender beim Kempener Rathaus angefragt – und angeklopft – hatte, wurden die Kinder schließlich aus der Familie genommen.

Der Fall beschäftigt seither viele Menschen – besonders weil das Kempener Jugendamt angab, das Video bereits seit Dezember zu kennen. Die Frage, die sich stellt, ist: Warum hat ein Eingreifen so lange gedauert?

Diese Frage hat die WZ der Stadt gestellt, genauer gesagt Jugendamtsleiterin Andrea Terschüren, aber auch Bürgermeister Christoph Dellmans, der gegenüber RTL angegeben haben soll, er wolle sich persönlich um die Sache kümmern.

Der Fragenkatalog: Wieviel Zeit genau verging zwischen Erhalt des Videos und dem Herausnehmen der Kinder aus der Familie? Welche Schritte hat das Jugendamt sofort unternommen, nachdem es das Video erhielt? Wurden alle Kinder aus der Familie genommen? Wurde die Familie bereits zuvor durch das Jugendamt betreut?

Die Antwort vom Jugendamt kam zügig, vermutlich deckt sie sich mit jener, die bereits RTL erhalten hatte: „Das besagte Video ist dem Amt für Kinder, Jugend und Familie im Dezember 2020 erstmalig übermittelt worden“, schreibt Jugendamtsleiterin Terschüren, ohne den Zeitpunkt näher einzugrenzen. „Angesichts der Darstellungen in der Filmsequenz wurde die damit zugegangene Information im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte als Kindeswohlgefährdung (KWG) im Sinne des §8a Sozialgesetzbuch, Achtes Buch (SGB VIII) – Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung – gewertet. Die Verfahrensschritte im Umgang mit einer solchen Meldung sind im SGB VIII eindeutig geregelt. Das Vorgehen ist insoweit standardisiert und wird in allen Fällen von so genannten KWG-Meldungen angewandt.“

Sieben Wochen liegen zwischen Videoerhalt und Inobhutnahme

Es folgt eine detaillierte Auflistung der Verfahrensschritte. Gefährdungseinschätzung, Kontaktaufnahme, Anbieten von Hilfe, Bewertung etc. Auch die Anrufung eines Familiengerichtes, die Möglichkeit eines akuten Handlungsbedarfs vor Entscheidung des Gerichtes und eine Krisenintervention werden als Optionen aufgelistet. Zum Tragen kamen diese im vorliegenden Fall aber offenbar erst kürzlich, nachdem die Angelegenheit bereits drohte, publik zu werden.

„Im Rahmen der bezeichneten Meldung wurden alle erforderlichen Maßnahmen von Seiten des Amtes für Kinder, Jugend und Familie der Stadt Kempen ergriffen“, versichert Terschüren. Wieviel Zeit dabei verstrich, dazu gibt es zunächst keine Antwort. Das zuständige Familiengericht habe sich „inzwischen“ mit der Angelegenheit befasst. Auch die Strafermittlungsbehörden sollen Kenntnis von dem Fall haben.

Detailliertere Angaben ließen die rechtlichen Vorgaben des Sozialdatenschutzes nicht zu. „In Anbetracht dessen durfte auch keine Stellungnahme des Bürgermeisters zum Sachstand erfolgen“, so die Jugendamtsleiterin.

Der wollte sich zunächst gegenüber der WZ nicht zu dem Fall äußern, verwies auf den Sozialdatenschutz und die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. Am Donnerstagnachmittag gab er dann aber doch Auskunft: „Die Meldung einer möglichen Kindeswohlgefährdung ist dem Amt für Kinder, Jugend und Familie durch die Übermittlung des bekannten Videos am 7. Dezember 2020 zugegangen“, schreibt der Bürgermeister.  Im Anschluss daran seien seitens der befassten Fachkräfte „unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen“ zum Schutz der betroffenen Kinder ergriffen worden, wie Gefährdungsbeurteilung, Hausbesuch, Unterstützungsleistungen etc.

„Aufgrund weiterer Hinweise und neuer Erkenntnisse in der letzten Januarwoche, wurden die Kinder am 26. Januar durch das Amt für Kinder, Jugend und Familie in Obhut genommen und das Familiengericht angerufen, dessen Beschluss die vorläufige Ermessensausübung des Jugendamtes ersetzt hat“, so Dellmans. Also gut sieben Wochen nach Erhalt des Videos.

Ob alle drei Kinder aus ihrer Familie genommen wurden, wird nicht beantwortet. Die WZ schützt die Identität der Betroffenen, um die Situation nicht durch Einmischung von außen zu verschlimmern. Andrea Terschüren dazu: „Um eine Traumatisierung der Kinder zu verhindern, wäre es aus Jugendhilfe-fachlicher Sicht wünschenswert, den bislang üblichen Umgang mit der Familie möglichst beizubehalten.“