Stadtführung durch Kempen am Abend Auch Einheimische können was lernen

Kempen · Eine Stadtführung durch Kempen ist auch für Einheimische spannend. Was es in der Altstadt zu entdecken gibt.

Treffpunkt bei den Stadtführungen ist immer das Kulturforum Franziskanerkloster. Trotz der Kälte hatten sich am Freitagabend 15 Neugierige eingefunden, die mit Stadtführer Gustav Gijsemans die Altstadt erkundeten.

Treffpunkt bei den Stadtführungen ist immer das Kulturforum Franziskanerkloster. Trotz der Kälte hatten sich am Freitagabend 15 Neugierige eingefunden, die mit Stadtführer Gustav Gijsemans die Altstadt erkundeten.

Foto: Norbert Prümen

Gustav Gijsemans ist nach eigenen Angaben „schon ewig“ Stadtführer in Kempen, sprich mehr als 20 Jahre. Der 73-Jährige ist gebürtiger Belgier. „Hängengeblieben“ sei er in Kempen nach dem Ende seiner Zeit als Berufssoldat bei der Nato, die in Krefeld-Forstwald stationiert war. Er führt auch in niederländischer und französischer Sprache. An diesem Freitag im Advent steht er um 18 Uhr vor dem Kulturforum, um seine Gäste in Empfang zu nehmen. Jeden dritten Freitag im Monat findet eine öffentliche Führung am frühen Abend statt. Was an lauen Sommerabenden ein angenehmes Schlendern sein dürfte, fordert bei Dunkelheit und strenger Kälte noch einmal besonders.

Und besonders ist auch die Atmosphäre an diesem Freitag. Auf dem Buttermarkt sind die Stände des Weihnachtsmarkts geöffnet. Die Altstadt ist festlich illuminiert und geschmückt. Glühwein-selige Besucher bummeln durch die Straßen und Gassen. Erstaunliche 15 Personen finden sich vor dem Kulturforum ein, darunter eine mit weihnachtlichem Kopfschmuck ausgestattete Damengruppe aus Moers. Die anderen Teilnehmer sind junge Leute, die vor kurzem nach Kempen gezogen sind und ihren Gutschein für eine Altstadtführung einlösen.

Die Führung von Gustav Gijsemans ist kein Abspulen von Daten. Sein Vortrag ist gespickt mit persönlichen Anekdoten. Aus seiner ledernen Aktentasche zieht er immer wieder Unterlagen, um sie herumzureichen. Manchmal ergeht er sich auch nur in geheimnisvollen Andeutungen, die neugierig auf mehr machen. Historische Fakten bilden das Netzwerk seiner Erzählungen zur Kapelle St. Peter, zur frühen Stadtgeschichte, zum Kloster, zur Burg. „Die wurde in nur vier Jahren Bauzeit erbaut, so lange braucht man heute für die Baugenehmigung“, merkt Gijsemans an. Doch viel interessanter ist die Geschichte von dem jungen Mann, der seiner Angebeteten an Heiligabend 2011 auf dem Burgturm einen Heiratsantrag machen wollte. Und wie sich zunächst niemand fand, der an diesem Datum eine Burgturmführung anbieten wollte. Gijsemans war es schließlich, der befand, dass man ein solches Anliegen nicht ablehnen könne. Er versteckte einen Rucksack mit Sektflasche und Gläsern im Turmbereich und stieß dann nach dem erfolgreichen Antrag mit den beiden Turteltauben in luftiger Höhe an. Als ein „persönliches Wunder“ bezeichnet er es, dass just zu diesem Zeitpunkt ein besonders heller Stern oder Komet über den Himmel zog. Die Rührung ist ihm anzumerken. Mittlerweile kriecht die Kälte von unten in den Körper. Die Damengruppe hat einen Tisch reserviert und muss sich frühzeitig verabschieden. Der Rest der Truppe arbeitet sich weiter vor. Es wird spannend und auch etwas gruselig: Gijsemans verweist auf das Haus Horten am Ring und die aufwändige, bislang ergebnislose Suche nach einer Frauenleiche, „unserer Dagmar Knops“, wie er sie nennt. Die 22-jährige Pädagogikstudentin war im März 1988 nach dem Besuch einer Gaststätte an der Tiefstraße spurlos verschwunden. Nach neuen Hinweisen untersuchte die Polizei 2010 den Keller der Gründerzeitvilla, musste aber die Suche aus statischen Gründen einstellen – obwohl Bodenanomalien festgestellt wurden und Leichenspürhunde Reaktionen gezeigt hatten.

Der Stadtführer zeigt jetzt auf das Von-Loe-Denkmal, das weiter hinten in der Parkanlage im Dunkeln liegt. Er erzählt die Geschichte des Gründers des Rheinischen Bauernvereins und von einem Jungmännerstreich in den 1950er-Jahren, als der ehrwürdige Herr mit Kalk überschüttet wurde. Dazu zieht Gijsemans die Kopie eines alten vergilbten Zeitungsartikels aus seiner Tasche und reicht ihn herum. Wochenlang sei dies Stadtgespräch gewesen, berichtet Gijsemans. Einer der Übeltäter, der spätere Bürgermeister und heutige Ehrenbürger der Stadt Kempen, Karl-Heinz Hermans, habe ihm berichtet, er sei damals „mit einem Knöllchen“ davon gekommen. Und gereinigt werden musste die Skulptur natürlich auch wieder. Alle paar Meter muss die Truppe anhalten, zu fast jedem Haus hat Gijsemans etwas zu sagen. Die Tiefstraße mit ihren historischen Bauten liegt ruhig und wunderbar illuminiert da. Er erzählt von den Menschen, die hier lebten, von der alten Dame, die sich dem Nazi-Diktat, „die Fahne zu grüßen“ elegant entzog, indem sie „Tach Fahne“ sagte.

Am Haus von Ingrid und Paul Wolters verweist er auf die Nische mit der Madonna aus Keramik, die Kempen mit ihrem Mantel schützend umhüllt. Dreimal habe Ingrid Wolters die Keramik gebrannt, jedesmal habe die Figur einen horizontalen Riss davon getragen. Nach dem dritten Mal blieb es, wie es war, kommentiert von Ingrid Wolters mit den Worten: „Das ist der Riss, der durch unsere Gesellschaft geht.“ Mittlerweile hat sich ein weiteres Paar verabschiedet. Die Kälte ist lähmend. Nur Gijsemans ist davon unbeeindruckt. Mit glänzenden Augen und großer innerer Begeisterung stellt er weiter seine Stadt vor. Auf der Schulstraße zeigt er nicht nur die historischen Bauten, sondern verweist vor dem Haus Nummer 10 auf die Stolpersteine im Pflaster und erzählt von dem Mann, der sich dort der Deportation durch die Nazis per Selbstmord entzog. So bekommt Stadtgeschichte ein persönliches, anteilnehmendes Gepräge. Es geht weiter über die Judenstraße bis zum Kirchplatz. Hier endet die Führung, nach mehr als den üblichen 90 Minuten, mit eiskalten Füßen und vielen herzerwärmenden Geschichten im Kopf.