Auszeichnung für Dinçer Güçyeter Nettetaler Dichter im Frankfurter Festzelt gefeiert

Nettetal · Der Dichter Dinçer Güçyeter aus Nettetal erhielt jetzt den Literaturpreis Stadtschreiber von Bergen-Enkheim. Die renommierte Auszeichnung wird seit dem Jahr 1974 verliehen, viele bekannte Autoren haben sie erhalten.

 Dinçer Güçyeter (links) bei der Preisvergabe in Frankfurt.

Dinçer Güçyeter (links) bei der Preisvergabe in Frankfurt.

Foto: Heribert Brinkmann

Es ist einer der bedeutendsten deutschen Literaturpreise: Der Stadtschreiber von Bergen-Enkheim, dotiert mit 20.000 Euro. Am Samstag hat ihn der Nettetaler Dichter Dinçer Güçyeter erhalten – in einem Festzelt auf dem Berger Markt.

Vor über 400 Besuchern im Zelt sollte ihm Vorgängerin Nino Haratischwili den Schlüssel übergeben, doch im Trubel war der Schlüssel plötzlich unauffindbar. Güçyeter ließ sich nicht entmutigen, notfalls werde er in das Haus An der Oberpforte 4 einbrechen. Am Morgen hatte er noch sein Namensschild offiziell am Haus angebracht. Der Nettetaler befindet sich in bester Gesellschaft, in den 50 Jahren dieses Preises erhielten ihn bereits Paul Nizon, Robert Gernhardt, Herta Müller, Ulla Hahn, Peter Härtling und Emine Özdamar. Der Stadtschreiber wird seit 1974 verliehen, damals war Bergen-Enkheim noch ein selbstständiger Ort, heute ist er der jüngste und östlichste Stadtteil von Frankfurt am Main.

Im Ort gibt es heute noch die Schelmenburg, in der bis 1914 Bier gebraut wurde. Die Sage um das Rittergeschlecht Schelme von Bergen hat Heinrich Heine in einer Ballade aufgegriffen, Carl Zuckmayer hat sogar ein Stück daraus gemacht, das 1934 im Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde. Bei der Preisverleihung im Festzelt mit Äppelwoi und Brezeln erwies sich Dinçer Güçyeter als ein wahrer Schelm: Für seinen Aufenthalt in diesem hessischen Dorf forderte „der Lyriker im Bierzelt“ ein Pony, mit dem er wie bei Tausendundeiner Nacht über Wüsten und Städte fliegen wolle. „Ein Gedicht macht man nicht nur mit Worten, durch jedes Gedicht rennt ein Pony.“ Auf der Seidenstraße werde er Gummibärchen an die Wölfe verteilen und dem Mond neue Kleider schneidern. Der Dichter stiehlt dem Berg das Pfeifen. Zum Schluss holte er seinen Sohn „Prinz Yilmaz“ auf die Bühne, zusammen lasen sie ein Fragment aus dem erfolgreichen Roman „Unser Deutschlandmärchen“.

Doch die Nettetaler brauchen keine Angst zu haben, dass „ihr“ Dichter und Verleger des Elif-Verlages für ein Jahr nach Hessen verschwindet und bundesweit keine Lesungen mehr wahrnehmen kann. Vielleicht zieht er sich ab und an dorthin zurück, um weitere Gedichte zu schreiben. Denn nach dem Roman stehen neue Gedichte an. Und am Vorabend der Wahlen in Thüringen und Sachsen rief Güçyeter den Menschen im Zelt zu: „Habt keine Angst.“ Der Dichter war in den letzten 18 Monaten 30-mal zu Lesungen im „Osten“ eingeladen und jedes Mal warmherzig empfangen worden. „Wir dürfen diese Menschen nicht allein lassen.“

Für die traditionell freie Festrede hatte Güçyeter die Brandenburger Schriftstellerin und Musikerin Manja Präkels eingeladen. Als Sängerin der Band „Der Singende Tresen“ war ihr das Festzelt nicht fremd. Bekannt wurde sie 2017 mit dem autobiographisch geprägten Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“, in dem sie die letzten Jahre der DDR in einer brandenburgischen Kleinstadt beschrieb. Ihre Festrede auf dem Berger Markt werde „kein patriotischer Text“ sein, sie rechnete mit „Dunkeldeutschland“ ab. Die Norm vieler Deutschen sei, nicht aufzufallen. „Und tausend Jahre schlechte Laune gibt es gratis dazu.“ Doch es „sei unser aller Land“ rief sie den Zuhörern im Zelt zu.

Dinçer Güçyeters Vorgängerin als Stadtschreiber war Nino Haratischwili, die georgisch-deutsche Theaterregisseurin, Dramatikerin und Romanautorin, die heute in Berlin lebt. Als ein leidenschaftlich politischer Mensch ist sie eine Grenzgängerin zwischen West und Ost, zwischen Tiflis und Berlin. In ihrer Abschiedsrede beschrieb sie ihre Erlebnisse, als am 8. August 2008 die russische Armee den Krieg nach Georgien brachte. Ihre Tante Keti habe sie während des Angriffs in eine Kellerbar geschleppt, um dort Chansons zur Gitarre zu singen. Mit Cognac im Magen lasse es sich besser sterben. Und so gab sie die Botschaft dieser Überlebenskünstlerin ans Publikum im Zelt weiter: „Lasst uns feiern“ - und über die Angst lachen. Mitgebracht hatte Güçyeter den Musiker Hakan Eren, der anatolische Tanz- und Liebeslieder auf der Baglama spielte – ein schöner Kontrast zu den Misstönen in der Welt draußen.