Schwerkranker bekam keinen Hausbesuch
Mehrere Viersener Hausärzte verweigerten dem 86-jährigen Siegfried Bauer einen Hausbesuch. Wenige Tage später war er tot.
Kreis Viersen. Cornelia Stankewitz-Schneider wusste, dass es schwierig sein würde, einen neuen Hausarzt für ihren schwer pflegebedürftigen Bekannten zu finden. Aber dass es unmöglich wäre, damit hatte sie nicht gerechnet. Über ein Dutzend Allgemeinmediziner rief die Viersenerin im Februar an, um einen Hausarzt zu finden, der sich bereit erklären würde, Hausbesuche bei dem 86-jährigen Siegfried Bauer zu machen, der gerade nach Viersen umgezogen war. Vergeblich. Der 86-jährige Mann war wegen einer Gefäßerkrankung der Beine mehrere Monate im Krankenhaus gewesen und hatte sich dort mit einem multi-resistenten Keim infiziert. Ende Januar wurde Bauer aus dem Krankenhaus entlassen. Er zog in seine neue Wohnung in Viersen. Am Wochenende des 17. Februars ging es ihm so schlecht, dass ein Notarzt kommen musste und den Senior ins Krankenhaus einwies. Dort starb Bauer am 18. Februar.
In den Wochen von seinem Krankenhausaufenthalt bis zu seinem Tod erklärte sich kein Hausarzt in Viersen bereit, den schwerkranken, gesetzlich versicherten Mann, der auf einen Rollstuhl angewiesen war, medizinisch zu versorgen. Sein bisheriger Hausarzt in Schwalmtal-Waldniel war zu weit weg. Nur ein Pflegedienst kam regelmäßig. Möglicherweise wäre Bauer auch gestorben, wenn er einen Hausarzt gehabt hätte, meint Stankewitz-Schneider. „Er hatte ein hohes Alter. Trotzdem ist das für mich ein Politikum.“ Über den Tod von Bauer hinaus fragt sie sich, wie es möglich ist, dass ein schwerkranker Mann über Wochen keine medizinische Versorgung findet. „Das kann doch jeden von uns treffen“, sagt Cornelia Stankewitz-Schneider. Bei ihrer Suche nach einem Hausarzt, der Hausbesuche macht, erhielt die Viersenerin Absagen in allen Variationen: „Das machen wir nicht.“ „Das rechnet sich nicht.“ Oder: „Das wird von der Krankenkasse nicht finanziert.“, „Das passt uns zeitlich nicht. Fragen Sie mal bei einer anderen Praxis nach.“
Ähnlich wie Stankewitz-Schneider hätte der Allgemeinmediziner Johann Arens die Suche für schwierig, aber für möglich gehalten. „So furchtbar dieser Einzelfall ist, er ist kein Zufall“, sagt der Mitbegründer des Hausarztzentrums Brüggen. „Unser Gesundheitssystem ist in einem Zustand, der jeder Beschreibung spottet.“ Auch der Kreisstellenleiter der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein, Arndt Berson, sieht Probleme in der hausärztlichen Versorgung. Von einem Hausärzte-Mangel will die KV Nordrhein indes nicht sprechen. Nach der „Bedarfsplanung zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung in Nordrhein“ gibt es in Viersen 180 Hausärzte und sechs freie Sitze. Im Kreis Viersen sind es — Kempen ausgenommen — 19,5 freie Sitze. „Bedarf besteht, aber wir haben keine krisenhafte Situation, bei der das Risiko besteht, hausärztlich unterversorgt zu bleiben“, sagt Heiko Schmitz, Sprecher der KV Nordrhein. „Trotz offener Hausarztsitze vor allem in ländlichen Bereichen ist die Versorgung am Nordrhein — vor allem im Vergleich zu anderen Regionen in NRW und Deutschland — nach wie vor gut bis sehr gut.“
Der Brüggener Arzt Johann Arens sieht das differenzierter: „Es gibt rein zahlenmäßig noch genügend Ärzte, aber die Arbeitszeiten haben sich verkürzt. In der nachrückenden Generation sind viele Ärztinnen, die familiär bedingt nur Teilzeit arbeiten. Deshalb ist die Arbeitszeit unter dem Strich über die Jahre gesunken“, erklärt Arens.
Zwei weitere demografische Faktoren kommen hinzu. Die Patienten werden älter, bringen chronische, komplexe Erkrankungen mit, die schwer zu behandeln sind. Und: Auch die Hausärzte werden immer älter. „Von rund 6500 Hausärzten in der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein sind rund 30 Prozent über 60 Jahre alt“, sagt Arens. In Schwalmtal seien sechs von neun Ärzten älter als 60 Jahre. Einer Modellrechnung der KV Nordrhein zufolge sollen im Jahr 2030 im Kreis Viersen 82 Hausärzte fehlen.
Darüber hinaus werden Hausbesuche in der Tat bescheiden honoriert. In der Vergütungstabelle wird die Position der geplanten Hausbesuche mit 22,95 Euro veranschlagt. „Hinzu kommt eine Fahrtkostenpauschale von fünf bis sieben Euro. Jeder Handwerker nimmt mehr für die Anfahrt“, sagt Arens. Rein menschlich kann der Allgemeinmediziner die Absagen seiner Kollegen verstehen. „Viele ältere Ärzte sind müde, die Versorgungslast tragen zu müssen.“
Cornelia Stankewitz-Schneider zog nach den Absagen bereits Konsequenzen. Sie rief die Hotline der Krankenkasse an. Bei der DAK-Hotline zeigte man sich betroffen von dem Fall, versprach Hilfe. Doch vier Tage später war Siegfried Bauer schon tot.