Anratherin schreibt Kirchenchronik
Die Geschichte der Pfarre St. Johannes Baptist Anrath gibt es dank Agnes Sehrbrock jetzt als Buch. Sie hat die Kladde früherer Pastoren gelesen und entschlüsselt.
Anrath. „Eigentlich war es gar nicht geplant, dass es ein Buch wird“, gibt Agnes Sehrbrock mit Blick auf das knapp 240 Seiten starke Buch, das auf ihrem Wohnzimmertisch liegt, zu. Es trägt den Titel „Aus der Chronik der Pfarre St. Johannes Baptist Anrath, 1882—1962“.
Eigentlich wollte die heute 91-Jährige seinerzeit anlässlich der 100-Jahr-Feier der Pfarrkirche in Anrath nur ein wenig in der Chronik stöbern und einiges an Informationen zu Planung und Vollendung der Kirche herausziehen. Dafür holte sie sich die alte braune Kladde aus dem Archiv der Kirche. In der hatten die Anrather Pastoren über einem Zeitraum von fast 100 Jahren ein Stück Geschichte festgehalten. Allerdings in einer für die meisten Menschen unlesbaren Schrift. Die Pastoren Krichel, Schoenenberg und Harff hielten die Ereignisse der Pfarre, eingebunden in das weltliche Geschehen, nämlich in der deutschen Kurrentschrift und später in Sütterlin fest. Zwei Schriftarten, die Agnes Sehrbrock allerdings keine Probleme bereiteten.
Agnes Sehrbrock
Dafür packte sie ein ganz anderes Problem — die Neugier. „Als ich mit der Recherche zur Pfarrkirche anfing, habe ich mich festgelesen. Es stand so viel Interessantes in der Kladde“, erinnert sich die 91-Jährige. Zugleich kam ihr der Gedanke, wie schade es doch wäre, wenn diese Vielzahl von Erlebnissen, Eindrücken und Geschehnissen im Archiv verstaubten, nur weil kaum noch einer die alte Schrift lesen kann. In ihr reifte die Idee, alles zu lesen und abzuschreiben.
1993 startete Agnes Sehrbrock mit ihrem Vorhaben, die alten Schriften in die lateinische Schrift zu transkribieren. Immer wenn sie Zeit und Muße hatte, setzte sie sich an die elektronische Schreibmaschine und machte sich ans Werk. „Ich hatte vor, es einmal abzuschreiben, in einen Ordner zu packen und damit für jeden lesbar zu machen“, erzählt die Anratherin. Eine Arbeit, die viel Konzentration abverlangte, und das nicht nur aufgrund der alten Schriften, sondern auch der Tatsache, dass es teilweise völlig verdrehte Satzstellungen waren, weil seinerzeit einfach anders geschrieben wurde.
Vor einem Jahr schlug Agnes Sehrbrock die Kladde das letzte Mal auf, dann war sie fertig. Es gab Hunderte von schreibmaschinenbeschrifteten Blättern in einem dicken Ordner. Zu diesem Zeitpunkt kam ihr das erste Mal der Gedanke, dass auch ein Buch daraus werden könnte.
Ihr Neffe Karl Heinz Sehrbrock scannte Seite für Seite ein und machte sich die Arbeit, Begriffe und lateinische Ausdrücke zu erklären und zu übersetzen, deren Bedeutung nicht allen Menschen geläufig ist. Auf diesem Weg kamen etliche Fußnoten zusammen. In einem Copy-Shop ließ der Anrather alles einmal drucken und präsentierte seiner Tante die von ihr abgeschriebene Pfarrchronik als Buch.
Der inzwischen von Agnes Sehrbrock informierte Kirchenvorstand war begeistert und beschloss, das Ganze nicht als einmalige Kopier-Aktion im Archiv verschwinden zu lassen, sondern vielmehr ein Buch mit Cover, Vorwort und allem, was dazu gehört, zu machen. Peter Theisen entwarf das Cover, Pfarrer Jürgen Lenzen schrieb das Vorwort.
Herausgekommen ist letztendlich ein ganz besonderes Werk, das den Leser packt. Denn langweilig wird es auf keiner der knapp 240 Seiten. Als Leser kann man staunen, schmunzeln und auch mal verständnislos den Kopf schütteln. Das 14-tägige Trauergeläute für Kaiser und König Wilhelm I., das mit einem Sprung in der Glocke endete, die hohe Kindersterblichkeit, die einst herrschte, oder die Weigerung, die Standarte des Reitervereins kirchlich zu weihen, weil dieser nicht auf einem Ball verzichten wollte und die unkirchliche Standarte dementsprechend nicht in der Fronleichnamsprozession getragen werden durfte — es geht unterhaltsam zu.
Der Brief von Missionar Pater Bruno Bens aus Honolulu, das Überhandnehmen des Tanzvergnügens an fast jedem Sonntag, das Fastnachtfeiern, der Raubüberfall mit zwei Toten, der Blitzeinschlag bei der Glockenmontage, der von den Amerikanern angeschossene Pfarrer, die erste Drillingsgeburt in Anrath — die Pfarrchronik liest sich abwechslungsreich.