Die Erinnerung an das Schreckliche wachhalten
Bernd-Dieter Röhrscheid und Udo Holzenthal berichten über die „Geschichte der Juden in Willich“.
Willich. Am 16. September 2016 war das Buch „Die Geschichte der Juden in Willich“ von Bernd-Dieter Röhrscheid und dem Archivar der Stadt Willich, Udo Holzenthal, vorgestellt worden. Im Pfarrzentrum St. Katharina lasen und erzählten die Autoren jetzt — ein gutes Jahr später — auf Einladung des Friedhofscafés vom Schicksal der in Alt-Willich lebenden Juden.
Die Zuhörer erfuhren unter anderem, dass vor dem Zweiten Weltkrieg in Alt-Willich wesentlich weniger Juden lebten als beispielsweise in den deutlich kleineren Gemeinden Anrath oder Schiefbahn. In Alt-Willich ging es hauptsächlich um die Familie Lion — die Überlebenden und ihre Nachfahren wohnen in den USA, Großbritannien und Australien. Bernd-Dieter Röhrscheid hatte als Lehrer am St. Bernhard-Gymnasium mit Achtklässlern die entsprechenden Kontakte geknüpft, die Auswanderer angeschrieben und so die Erinnerungskultur in Willich angestoßen. „Die Familie Lion war in Willich völlig assimiliert, im Grunde wurden sie gar nicht als Juden wahrgenommen“, erklärte Holzenthal.
„Sind wir auch Israelit, so ehren wir den Bischof mit“: Dieser Wahlspruch von Hermann Lion zeigt die Offenheit seiner Familie. Der Metzger und Viehhändler besaß drei nebeneinander stehende Häuser an der Bahnstraße, unter anderem das, in dem heute die Gaststätte „Alt Willich“ ist.
Else Lion, eine Enkelin von Hermann Lion, notierte in einem Brief: „Ich war bei Freunden nicht mehr erwünscht und plötzlich war ich ausgestoßen, allein.“ Die hübsche junge Frau floh nach Großbritannien, wo sie 1995 verstarb.
Hans Lion war drei Jahre älter als seine Schwester Else und war auf dem Weg, Jurist zu werden. Der damalige Willicher Bürgermeister Hans-Joachim Baltasar meldete, dass Lion als juristischer Berater tätig war: Er trete bei Behörden „mit einiger Dreistigkeit auf“. Sein Bestreben sei es, „dem Eigennutz des Einzelnen Erfolg zu verschaffen“. Hans Lion emigrierte nach London, wurde Polsterer, gründete später in Australien eine eigene Polsterei, mit der er sehr erfolgreich sein sollte.
Udo Holzenthal kritisierte die Engländer, die den Ernst der Lage zunächst verkannten, in jedem jüdischen Flüchtling einen deutschen Spitzel vermuteten und die Aufenthaltserlaubnisse auf drei Jahre beschränkten.
Die zahlreichen Zuhörer erfuhren von dem großen Zusammenhalt der Juden — so war es nicht ungewöhnlich, dass ein Witwer eine Schwester seiner Frau nach deren Tod heiratete. Auch sei es erlaubt gewesen, dass sich Cousin und Cousine das Ja-Wort gaben.
Und die Besucher erfuhren, dass im nahen Fichtenhain die SA ein Lager hatte, also schnell mal eben zum Aufmischen der Juden in Willich vor Ort war — kein Wunder also, dass das Haus der Lions in der Pogromnacht gestürmt und verwüstet wurde. Zerstört worden war in dieser Nacht auch die Synagoge in Schiefbahn, während die in Anrath unangetastet blieb, weil dort auch eine arische Familie wohnte.
„Traurig, traurig, traurig“, sagte eine Zuhörerin zum Schluss und Gitte Büsch vom Friedhofscafé wischte eine Träne beiseite.
Von dem Werk „Die Geschichte der Juden in Willich“ ist die Auflage von 500 Exemplaren bis auf gut 50 Bücher verkauft. Röhrscheid und Holzenthal sind froh, dass die Erinnerungskultur doch noch in Gang gekommen ist. Beispiele sind die Stolpersteine und andere Mahnmale, die Benennung von Straßen und Plätze nach jüdischen Bürgern — und nicht zuletzt das jetzt vorgestellte Buch.