Vorst Abschied am Gemüsestand

Vorst. · Bei Martina Löwel gab es gut elf Jahre lang neben Obst und Gemüse auch Neuigkeiten und Zuwendung.

Sie hat am Gemüsestand von Fruhen auf dem Volksbankparkplatz in Vorst elfeinhalb Jahre jedem Wetter getrotzt: Bei minus 8 Grad ist ihr „der Salat unter der Hand eingefroren und bei plus 38 Grad sah ich im Gesicht manchmal aus wie eine Fleischtomate.“ Jetzt sagt Martina Löwel ihren Kunden freundlich Servus, geht in den Ruhestand und träumt von einem Leben in Bayern.

Foto: Lübke, Kurt (kul)

Kaum hat Martina Löwel die leeren Eierkartons von der Kundin im Sportdress entgegengenommen, sind die beiden Frauen auf dem Parkplatz vor der Volksbank schon in ein Gespräch über Wimpernverlängerung vertieft und über Mittel, die einen Erfolg tatsächlich dauerhaft sichtbar werden lassen.

Einige Minuten zuvor hat Martina Löwel einer Dame einige Äpfel abgewogen: „Diesmal nicht so viele. Ich fahre am Donnerstag in den Urlaub. In den Schwarzwald. Da kommt meine Großmutter her“, erzählt die Kundin. „Schwarzwald“, sagt Löwel mit schwärmerischer Stimme, „da habe ich schon tolle Motorradtouren gemacht.“

Wer in Vorst am Gemüsestand von Fruhen an der Süchtelner Straße gleich gegenüber der ehemaligen Metzgerei Kohnen einkauft, geht nicht ohne Obst, Gemüse und mindestens zwei Neuigkeiten aus dem Ort wieder weg. Oder Tipps zum Verreisen, zum Kochen. Oder mit der herzerwärmenden Frage: „Wie geht es zu Hause?“

Die Disponentin
wurde Erdbeerpflückerin

Martina Löwels angestammter Platz ist ein Umschlagplatz an Neuigkeiten und Zuwendung. Für die Krefelderin ist es der Stand seit nunmehr elf Jahren, sechs Monaten und zwei Tagen. Noch zwei weitere und dann sagt sie „adieu“. Am 20. Oktober schließt sie die Tür der Hütte nicht nur für eine vier- bis fünfmonatige Winterpause ab. Nein, für Martina Löwel ist es der Abschied von einer zwölfjährigen Lebensphase: „Ich gehe in den wohlverdienten Ruhestand.“ Dann endet auch ihre zugewandte Seelsorge zwischen Sellerie und Rubinette.

Es scheint irgendwie der richtige Zeitpunkt dafür gekommen zu sein. Martina Löwel ist 62 Jahre und wäre in einem Jahr sowieso in Rente gegangen. Aber seit die Metzgerei Kohnen gegenüber leer steht, die Nachfolgeregelung des Vorster Metzgers keine Lösung auf Dauer war, ist die Zahl der Kunden zurückgegangen. Es hat sich etwas verändert. Die Nähe dieser Nachbarschaft vermisst sie. Und das nicht nur wegen der heißen Suppe, die Metzger Kohnen jeden Samstag Martina Löwel persönlich über die Straße brachte.

Zuwendung kommt aber immer auch von der anderen Seite des Parkplatzes. „Frau Held von der Volksbank bringt mir jeden Tag einen Kaffee rüber.“

Eine Zäsur im beruflichen Leben führte Martina Löwel und ihren damaligen Mann nach Vorst. Sie arbeitete als Disponentin „mit rot lackierten Fingernägeln und im Kostüm“ bei einer Firma. Sie war 50 Jahre alt, als sie die Insolvenz des Betriebs traf. „Damals bin ich mit dem Rad bei Fruhen vorbeigekommen und habe gefragt, ob sie eine Pflückerin suchen. Ich wollte Erdbeeren pflücken und essen, bis mir schlecht wird.“ Kurz darauf robbte sie neben Erntehelfern aus Polen durch die Erdbeerpflanzenreihen und hatte keine Zeit mehr fürs Naschen. Nach zwei Wochen bot Obstbauer Fruhen ihr die Stelle als Verkäuferin an. Sie sagte sofort zu und baute den Stand, der strategisch so günstig liegt, über Jahre auf und aus, organisierte einmal sogar eine Unterschriftenaktion für den Standort.

„Eine Gurke und ein Mal Kartoffeln.“ Eine Frau hat ihr Rad am Stand geparkt. „Wie geht et Mutter?“ fragt Löwel und tauscht sich mit der Stammkundin aus. Lieselotte Jonas schätzt die kurzen Gespräche: „Mit ihr hat man immer was zu vertällen.“ Heute kauft Jonas für ihre über 90-jährige Mutter mit ein. „Früher kam sie noch jeden Dienstag und Freitag selbst“, sagt Löwel und lässt Grüße ausrichten.

Mit 57 Jahren den
Motorradführerschein gemacht

„Ich geh’ mal eben zu Tina“ – wenn dieser Satz fällt, ist vielen Vorstern klar, wer gemeint ist. „Einige sagen auch Pippi, vor allem Kunden der ersten Stunde“, die Martina Löwel noch mit geflochtenen Zöpfen erlebt haben. Man kennt sich, Geschmäcker, Gewohnheiten. Kommt ein Stammkunde nicht zur gewohnten Zeit, erkundigt sich die Verkäuferin bei anderen, ob alles gut ist.

Gut lief es bei ihr persönlich nicht immer. Erst der Jobverlust 2007, dann ging die Ehe in die Brüche. Martina Löwel bekam damals eine Wohnung am Nelkengarten angeboten. Sie zog ein und erfüllte sich, abgesegnet von ihrer Vermieterin, den Traum vom eigenen Hund. Ihre Labradoodle-Hündin verstand sich bestens mit dem Labrador eines Nachbarn. „Heute ist er mein Mann. Wir haben vor kurzem in Bayern geheiratet. Auf dem Kawendel, nur für uns.“

„Ich werde meine Kunden vermissen“, sagt Löwel. Doch die Aussicht auf mehr Freizeit, auf mehr Zeit für die Hunde, auf Motorradtouren mit ihrem Mann, die lässt sie strahlen. „Ich habe erst mit 57 Jahren den Motorradführerschein gemacht. Ja, ich traue mich was. Ich fahre die höchsten Serpentinen hoch. Ich, nur 1,53 Meter groß und 50 Kilogramm schwer, mit einer Maschine, die 190 Kilo wiegt. Da wundere ich mich manchmal über mich selbst“, sagt’s, lacht und packt einer Passantin zehn Eier und ein Pfund Pflaumen ab.

Frische und Geschmack der Ware seien ihr immer wichtig gewesen. „Die Kunden schätzen meine Ehrlichkeit.“ Devise: Gute Qualität fürs Geld.

Im März oder April 2019 öffnet Fruhen wieder seinen Stand. Dann beginnt die Zeit von Spargel und Erdbeeren. Sollte es zu personellen Engpässen kommen, „helfe ich aus“, sagt Martina Löwel. Bis es nach Bayern geht. Nicht nur auf Kurzreise, sondern auf Dauer. Diesen Traum wollen sie und ihr Mann irgendwann erfüllen. Dann wird sie Vorst noch mehr fehlen.