Lese-Tipp der Stadtbibliothek Tönisvorst Einfach mal abtauchen mitten in der Großstadt
Tönisvorst · (Red) Carmen Alonso, die Leiterin der Tönisvorster Stadtbücherei, gibt Literaturtipps. Diesmal: „Nicht aus der Welt“ von Anne Köhler.
Hempel studiert im 26. Semester! Er nennt dies gründlich, seine Mutter Faulheit. Ganz anders ist seine Freundin Elfie gestrickt: Energiegeladen, organisiert und besessen von Träumen und deren Deutung. Klar, dass sie auch ihren Freund Hempel nach seinen Träumen fragt. Da ihm nichts Originelles einfällt, nennt er unbedacht die Teilnahme am New York Marathon. Ein Fehler, wie er schnell feststellt: Denn um seinen vermeintlichen Traum wahr werden zu lassen, muss er unter strenger Aufsicht seiner Partnerin auch etwas dafür tun. Er kauft sich teure Sportklamotten, verlässt das Haus, um zu trainieren, bummelt aber die vermeintlich geleistete Trainingseinheit auf einer Parkbank ab. Was er nicht bedacht hat: Bei diesem weltberühmten Marathon erhält wer drei Jahre in Folge nicht ausgelost wurde, im vierten Jahr automatisch einen Startplatz. Dumm gelaufen, und nun? Hempel möchte Elfie nicht enttäuschen, ist aber zu feige, ihr die Wahrheit zu gestehen.
Er bucht einen Flug nach New York, doch dann passiert am Flughafen etwas total Absurdes: Kurz vorm Einchecken nimmt ein Angestellter der Airline den völlig verzweifelten Hempel beiseite und macht ihm ein Angebot, das dieser nicht ablehnen kann. Er bringt ihn zu einer Art Hotel, mitten in Berlin, aber versteckt und nur für Eingeweihte zugänglich. Es ist eine Oase der Stille, in die man für eine Auszeit einfach verschwinden kann, niemand weiß, wo man ist. Ein Traum für gestresste und überforderte Großstädter; etwa für Friederike, eine eigentlich souveräne Professorin um die 40, die seit der Geburt ihres Schreikindes ein reines Nervenbündel ist, oder für Linda, eine Börsenmaklerin mit üblem Burnout. Und jetzt auch Hempel. Geplant wurde dieser ungewöhnliche Zufluchtsort von Valentin, einem Architekten und mittlerweile Geschäftsführer dieses Hotels. Das Gebäude ist sehr ausgeklügelt gebaut, mit sich verschiebenden Wänden und anderen raffinierten Details. Valentin sammelt in der Stadt verzweifelte Seelen auf, bietet ihnen einen Ort der Ruhe und päppelt sie mental wieder auf. So eine Kur könnte Valentin selbst aber auch mal gebrauchen, denn schon die kleinste Veränderung – seine langjährige Therapeutin, mit der er sich immer sarkastische Wortgefechte liefert, hat ihre Praxisräume in einen anderen Berliner Kiez verlegt – bedeutet für ihn schon bedrohlichen Stress. Und als dann noch einige „Hotelgäste“, die sich in den Hotelfluren voller Nischen und getarnten Türen eigentlich nicht begegnen sollten, spontan gemeinsam türmen, scheint sein Chaos perfekt.
„Nicht aus dieser Welt“ ist eine unterhaltsame Satire auf die Überforderungen einer modernen Gesellschaft, in der der Einzelne oft nicht den vermeintlichen Erwartungen gerecht zu werden vermag. In süffisantem Erzählton werden die einzelnen Protagonisten und ihre persönlichen Nöte vorgestellt und die verworrenen Situationen, denen sie sich ausgeliefert fühlen. Ein interessantes Gedankenexperiment, beim Lesen erwischt man sich bei dem Gedanken, auch mal in so ein Hotel einzuchecken.
Anne Köhler (geb. 1978 in Lahn-Gießen) ist eine deutsche Autorin. Daneben arbeitete sie als Kellnerin, Lektorin, Sortiererin, Bürodame, Fotoassistentin, Archivarin und Köchin. Sie lebt in Berlin.
