Willich Neue Heimat nach der Flucht gefunden

Es ist ein Mammutprojekt, das jetzt Formen angenommen hat. Die Ausstellung „Flüchtlinge und Vertriebene nach 1945 in den Altgemeinden Willich, Schiefbahn, Anrath und Neersen“ startet im Oktober.

Foto: Lübke

Schiefbahn. 165 Aktenordner mit mehr als 4723 Einzelakten haben weit über ein Jahr die Mitglieder der Heimat- und Geschichtsfreunde Willich, ihre Kollegen vom Bürgerverein Anrath und Stadtarchivar Udo Holzenthal beschäftigt. Ein Mammutprojekt: Unter dem Titel „Flüchtlinge und Vertriebene nach 1945 in den Altgemeinden Willich, Schiefbahn, Anrath und Neersen“ arbeitet das Projektteam an einer Ausstellung, die sich mit dem Schicksal der Menschen auseinandersetzt, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat vertrieben wurden und in Willich eine neue Heimat gefunden haben.

Bernd-Dieter Röhrscheid, Kurator des Projekts

Das Projekt bedeutet aber noch viel mehr. Bürger werden anhand der geleisteten Arbeit Rückschlüsse über ihre Vorfahren ziehen können, die einst unter anderem aus Pommern, Schlesien, Ost- und Westpreußen kamen. Die Inhalte der vergilbten Blätter der Aktenordner aus dem Archiv erfassten die Mitglieder per Hand Stück für Stück. Alles wurde auf diesem Weg digitalisiert — und zwar sortiert nach den vier Stadtteilen Willich, Schiefbahn, Neersen und Anrath.

„Wir werden Anfang Oktober alles online stellen. Jede einzelne Person ist mit Familienname, Vorname, Geburtsjahr und -ort, Konfession, Beruf, Zeitpunkt der Flucht und Ankunft mit entsprechenden Orten verzeichnet“, informiert Bernd-Dieter Röhrscheid, Kurator des Projektes. Auf den Internetseiten der Stadt können die Bürger darauf Zugriff nehmen und bei Bedarf Kontakt herstellen, um in die Akte an sich Einblick nehmen zu können. 4723 Personen erfasste das Team auf diese Weise.

Doch damit nicht genug. Über den Bund der Vertriebenen konnte Harald Brülls von der Projektgruppe den Kontakt zu Zeitzeugen herstellen und Interviews aufzeichnen, die zu einem Kurzfilm zusammengestellt wurden. Anrather, Willicher und Schiefbahner erzählen darin von ihren Erinnerungen an Flucht und Vertreibung, an eine Reise ins Ungewisse. Da tauchen die Straßen voller Leiterwagen mit Pferden wieder auf. Die Gütertransportzüge, in die die Menschen verladen wurden. Oder das Ankommen in Willich. Geschichte, die Menschen für ihr Leben prägte.

Des Weiteren kam es zur Digitalisierung von Karten, die Fluchtwege der damaligen Zeit widerspiegeln bis hin zur Ankunft in den vier Willicher Stadtteilen. Andere Karten zeigen die Städte, aus denen die Menschen vertrieben wurden. Allein aus Schlesien kamen 1069 Frauen, Männer und Kinder nach 1945 an. 1196 waren es aus Ost- und Westpreußen sowie 843 aus Pommern.

„Man stolpert über Schicksale, von denen wir einige als Kurzbiographien dargestellt haben“, berichtet Udo Holzenthal. Es gibt da zum Beispiel Flüchtlinge, die in Anrath geboren wurden, die danach in Schlesien lebten und als Vertriebene in den Geburtsort zurückkehrten, um in elterlichen Häusern ein neues Leben aufzubauen.

Das Projekt holt einen wichtigen Zeitabschnitt deutscher und Willicher Geschichte in die Erinnerung zurück — wobei dafür Hunderte von Arbeitsstunden in das Gesamtwerk gesteckt wurden. Das alles lief dabei im Rahmen von „Unterwegs“, das der Kulturraum Niederrhein ins Leben gerufen hat. Darüber erfolgt auch die Finanzierung. Neben den Ausstellungszeiten im Schiefbahner Heimatmuseum plant das Organisationsteam, die Arbeiten auch für interessierte Schulen und Gruppierungen zugänglich zu machen.