Schicksal der Familie Kaufmann
Am Mittwoch vor 70 Jahren mussten sieben Juden Schiefbahn verlassen. Sie wurden nach Polen deportiert.
Schiefbahn. Wenn Bernd-Dieter Röhrscheid am Mittwoch gegen 13 Uhr auf die Uhr schaut, wird er innehalten. Dann wird sein Wissen um das Schicksal der Familien Kaufmann und Heumann wie ein Film vor dem geistigen Auge ablaufen. Dieser Film ist keine Fiktion, sondern war grausame Wirklichkeit während der Nazidiktatur.
Am Mittwoch vor 70 Jahren mussten sich sechs Erwachsene und ein noch nicht vier Jahre alter Junge auf Befehl des Schiefbahner Gendarmeriemeisters Schumann zur Mittagszeit des 26. Oktober 1941 am Rathaus einfinden. Sechs von ihnen kehrten nie mehr in ihr Zuhause an der Schulstraße 2 zurück.
Bernd-Dieter Röhrscheid, Lehrer am St. Bernhard, und Stadtarchivar Udo Holzenthal stellen zurzeit ein umfangreiches Buch zu den Schicksalen jüdischer Familien in Willich zusammen.
Das Ehepaar Siegmund und Josefine Kaufmann, ihre erwachsenen Kinder Elisabeth, Ernst, Fritz und die verwitwete Tochter Thekla, verheiratete Heumann, mit ihrem kleinen Sohn Herbert bestiegen mit Gepäck den Wagen des Fuhrunternehmers Juntermann. Er brachte die jüdische Familie von Schiefbahn nach Mönchengladbach. Röhrscheid: „Bis um 14 Uhr sollte er sie am Eilgutschuppen des Hauptbahnhofes abliefern.“ Die Schiefbahner trafen dort auf Juden aus Gladbach, Krefeld, Viersen und dem Kreisgebiet. Auf 75 Männer, Frauen und Kinder wuchs die so genannte Mönchengladbacher Gruppe an. „Jeder musste 100 Reichsmark an Transportgeld mitbringen“, sagt Röhrscheid. Die Menschen wurden noch am selben Tag nach Düsseldorf-Derendorf gebracht. Sie wurden durchsucht, mussten ihre Wertsachen abgeben. Sie verbrachten die Nacht am Bahnhof.
Am 27. Oktober begann die Deportation. Der Düsseldorfer Transport mit insgesamt 1003 nachgewiesenen Personen der Region setzte sich nach Litzmannstadt (Lodz/Polen) in Bewegung. Endstation war das Ghetto.
Viehhändler Siegmund Kaufmann starb dort im Juli 1942. „Wahrscheinlich ist er an Entkräftung gestorben“, sagt Röhrscheid. Im September 1942 starben Josefine, Ernst, Elisabeth, Thekla und Herbert, ermordet im 50 Kilometer von Lodz entfernt liegenden Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno). Sie wurden auf der Ladefläche eines Lkw vergast. Der einzige Überlebende dieser Schiefbahner Familie war Fritz. „Er kehrte im Juni 1945 nach Schiefbahn zurück in sein Elternhaus, das zwischenzeitlich der Ortspolizist bewohnt hatte.“
Bernd-Dieter Röhrscheid setzt diese Erinnerungen gemeinsam mit Udo Holzenthal wie ein Puzzle aus Datenteilen zusammen. Die Unterlagen im Willicher Stadtarchiv, darunter Kennkarten von 1938, das 2010 erschienene Buch „Getto Litzmannstadt“, Hinweise aus Dokumenten der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und Unterlagen des Bundesarchivs sind Quellen ihrer Recherche. Die Kopien und Vermerke füllen mittlerweile mehrere Aktenordner.
„Von dem kleinen Herbert Heumann und seiner Mutter Thekla gab es noch ein Lebenszeichen aus Litzmann-stadt. Für beide ist jeweils ein Brief gelistet. Absender: Die Fischstraße im Ghetto“, sagt Röhrscheid. Was und an wen die beiden Briefe gingen, weiß er nicht. Es ist ein Detail des grausamen Familienschicksals, das ihm nicht nur am Mittwochmittag um 13 Uhr in den Sinn kommen wird.
Die Fotos der Familienmitglieder Kaufmann stammen von Kennkarten von 1938 (Stadtarchiv).