St. Tönis: 250 Besucher wollten Joachim Gauck sehen und hören
Der Pastor und Bürgerrechtler las aus seinem Buch und trug sich ins Goldene Buch der Stadt ein.
St. Tönis. Stille in der evangelischen Kirche in St. Tönis. Gespannt, bewegt und aufmerksam hören sich 250 Besucher die Lebensgeschichte an, die Joachim Gauck erzählt. Der 70-Jährige, der Pastor in Lüssow/Kreis Güstrow war, später in Rostock-Evershagen, der Bürgerrechtler, Mitglied des Neuen Forums, Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde und in diesem Jahr Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten - er liest aus seinem Buch "Winter im Sommer - Frühling im Herbst".
Bewegt ist Gauck bei seinen Erinnerungen vor allem als vierfacher Familienvater. Prägend war seine Kindheit und Jugend in Mecklenburg und vor allem der sommerliche Siebenschläfertag des Jahres 1951, der für ihn einem eisigen Wintertag gleichkam: sein Vater, der ebenfalls Joachim hieß, wurde von der Stasi "abgeholt" und wenig später von einem sowjetischen Militärtribunal wegen Spionage und angeblicher antisowjetischer Hetze zu zweimal 25 Jahren Gefängnis und Zwangsarbeit verurteilt.
Bei dem Seemann hatte man lediglich eine Einladung nach West-Berlin und ein nautisches Fachjournal aus dem Westen gefunden. Die Familie erfuhr erst nach Stalins Tod 1953 davon, dass der Vater in einem sibirischen Lager Bäume fällte. Er wurde 1955 frühzeitig entlassen.
Bei der gemeinsamen Veranstaltung von Kreis-VHS, Stadt-Bücherei und evangelischer Kirchengemeinde macht Joachim Gauck deutlich, wie das frühere DDR-Regime "ein ganzes Staatsvolk kurzerhand zu Leibeigenen machte", erinnert an die etwa drei Millionen Menschen, die sich von 1949 bis 1989 abgesetzt hätten und an die 250000 Personen, die aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen wurden.
Darunter waren drei seiner vier Kinder. Sein ältester Sohn Christian, der unbedingt Medizin studieren wollte, aber dem das Abitur versagt blieb ("Er war halt nicht in der FDJ"), musste jahrelang Schikanen ertragen, bis sein Ausreiseantrag bewilligt wurde. Heute ist der ehemalige Angestellte einer Orthopädie-Werkstatt Oberarzt an einem Hamburger Krankenhaus.
Unter den Zuhörern ist Bürgermeister Thomas Goßen, der das Goldene Buch dabei hat, in das sich Joachim Gauck gerne einträgt. Er signiert einige seiner Lese- und Hörbücher. "Ich werde nie mehr eine Wahl versäumen", erinnert sich der Bürgerrechtler noch genau an den 18. März 1990, als er zum ersten Mal frei wählen durfte: "In der DDR nannte man die Wahlen nur Zettelfalten."
Joachim Gauck veranschaulicht auch den Umfang der Stasi-Hinterlassenschaft: rund 180 Kilometer Akten, darunter sechs Millionen Personen-Dossiers.
Der gebürtige Rostocker ist ein Verfechter der Freiheit und der Grundrechte. Er denkt auch mit Tränen und Trauer oft an seine Erlebnisse zurück. "Manchmal habe ich Sehnsucht nach der Sehnsucht."