Tönisvorst Starke Frau kämpfte für die Vertriebenen

Eine Straße in einem Neubaugebiet in St. Tönis wird an Marianne von Sahr erinnern.

Foto: Archiv Heimatbund St. Tönis

St. Tönis. Bei der Entscheidung im Hauptausschuss gab es keine Gegenstimme: Eine Straße im geplanten Neubaugebiet an der Schäferstraße soll nach Marianne von Sahr benannt werden. Die evangelische Kirchengemeinde hatte diesen Vorschlag gemacht.

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„Älteren Menschen in unserer Gemeinde ist sie bis heute in dankbarer Erinnerung“, schreibt Pfarrer i. R. Renz Schaeffer zur Begründung des Antrags. Doch jüngere Leute werden sich kaum an Marianne von Sahr (1902-1997) erinnern, zumal diese schon wenige Jahre nach dem Krieg St. Tönis wieder verlassen hatte. Dabei lohnt sich gerade in Zeiten, in denen Flucht und Vertreibung wieder in aller Munde sind, an sie zu erinnern.

Die Ehefrau eines sächsischen Gutsbesitzers, eine geborene von Carlowitz (ihr Vater war Offizier), flieht am Ende des Zweiten Weltkrieges wie so viele vor den russischen Truppen in den Westen. In St. Tönis findet sie Unterschlupf bei der Fabrikantenfamilie Kress auf dem Gut Groß Lind. Diese Familie kennt sie offenbar schon länger, da Kress während des Krieges in Riesa (Sachsen) eine Produktionsstätte hatte. So zumindest schreibt es Renz Schaeffer 2013 in einem Beitrag für den Heimatbrief, in dem er aus ihren 1978 erschienenen Lebenserinnerungen zitiert.

In St. Tönis erlebt die Adelige das Elend der verarmten und entmutigten Flüchtlinge hautnah — und beschließt zu handeln. Ihr wichtigster Ansprechpartner wird Hermann Hardtke, der als evangelischer Pfarrer für den Raum Kempen zuständig ist. Auf diesem Gebiet mit einer Größe von 160 Quadratkilometern lebten vor dem Krieg nur etwa 1700 evangelische „Seelen“ — durch die Flüchtlingsströme werden es innerhalb weniger Jahre mehrere Zehntausend. Damit ist Hardtke, der seit 1910 im Amt ist, hoffnungslos überfordert.

Marianne von Sahr wird eine seiner wichtigsten Mitarbeiterinnen. Wie sie den Pastor näher kennenlernte, hat sie später so beschrieben: „Alle drei Wochen hielt er Gottesdienste in der katholischen Krankenhauskapelle in St. Tönis, die wir oft besuchten. Eines Tages winkte er mir nach dem Gottesdienst zu und bat mich leise, ihm in die Sakristei zu folgen. Er wollte mir, wie er sagte, ein Korsett überreichen, das ein evangelischer Gummifabrikant ihm zur Weitergabe an Flüchtlinge übergeben hatte. Ich fasste mich schnell, nahm das evangelische Korsett unter den Arm und befestigte damit stolz meine recht ringeligen Strümpfe.“

Bereits seit März 1946 ist Marianne von Sahr, die mit ihrem Mann mittlerweile auf dem Hof von Karl Langels lebt, Mitglied im Wohlfahrtsausschuss der Gemeinde St. Tönis, wo sie sich um die Unterbringung und Versorgung der Vertriebenen kümmert. Als neue Gemeindehelferin von Hermann Hardtke richtet sie nun — mit Feldpredigerbinde am Arm — in den Orten des Kreises Sprechstunden ein und notiert die Wünsche und Nöte der Vertriebenen. Sie holt die apathisch in Gasthofsälen Wohnenden zum gemeinsamen Reden und Singen zusammen, vermittelt erste Hoffnung auf ein neues Leben.

Doch dabei bleibt es nicht. Zeitzeugen erinnern sich, dass Marianne von Sahr Verbindungen zur Diakonie, zum neuen Evangelischen Hilfswerk, zu Gemeindeämtern und Unternehmern knüpfte. Heute würden man sie eine geniale „Netzwerkerin“ nennen. Sie hilft in den Flüchtlingslagern mit Lebensmitteln und Bekleidung, besorgt Arbeit, indem sie mit Unternehmen verhandelt.

Um 1950 verlassen die von Sahrs St. Tönis in Richtung Herongen, wo die rührige Frau ein Kinderheim aufbaut. Nach dem Tod ihres Mannes heiratet sie ein zweites Mal und trägt seitdem den Namen Marianne Hamm von Sahr.

Ihr Wirken ist bis heute nicht vergessen. Renz Schaeffer: „Gerade in diesen Tagen erscheint mir das Erinnern an diese mutige und engagierte Frau hilfreich. In den Turbulenzen der direkten Nachkriegszeit hat sie, selbst Flüchtling, durch ihre zupackende und hoffnungsfrohe Art Menschen in St. Tönis und Umgebung, die nach Flucht und Vertreibung vor einem völligen Nichts standen, gezeigt, dass es sich lohnt, den Mut niemals sinken zu lassen.“