Sigmar Polke in Willich Künstlerkommune zwischen Rübenfeldern
Willich · In den 1970er-Jahren lebte der Künstler Sigmar Polke auf dem Gaspelshof in Willich. Künstlerfreundinnen und -freunde gingen dort ein und aus. Auf dem Hof begannen sie, gemeinsam Kunstwerke zu produzieren.
Heute sieht der Gaspelshof in Willich sehr attraktiv aus. In den 1970er Jahren bot er ein anderes Bild. Einfach war es dort, marginal eingerichtet war der Hof, nur wenige Holz- und Kohleöfen sorgten für geringe Wärme. „Da leben doch diese Hippies“, das war die gängige Vorstellung der Willicher zu dieser Zeit. Dass mehrere dieser „Hippies“ sich im Laufe der Jahre als international bekannte und anerkannte Künstler entpuppten, ahnten damals nur wenige Fachleute.
Ebenso, dass ein Bild eines dieser Künstler Jahre später im Pariser Museum Centre Pompidou hängen würde. Und diesen Namen tragen würde: „Chamäleonardo da Willich“. Die Rede ist von Sigmar Polke, der das Bild auf Damastbaumwolle malte. Ein verschwindendes Chamäleon ist dort zu sehen, ein Drache, Menschen chinesischer Herkunft, Lucky Luke, Punkt-Punkt-Strich-Gesichter – und gelbe, unregelmäßig geformte Farbflächen. Kartoffeln? Läge nahe, denn der Künstler bediente sich gern der Ironie und des Witzes und der Gaspelshof bot Aussicht auf Kartoffelfelder. Das Bild mit dem Titel „Chamäleonardo da Willich“ entstand Ende der 1970er Jahre.
Der Willicher Klaus Behrla hat sich intensiv mit dem Thema Polke und Willich befasst. Er ist seit Februar dieses Jahres der Vorsitzende des Kunstvereins Willich. Seine Leidenschaft galt schon als Jugendlicher der künstlerischen Fotografie. Eigentlich wäre er gerne bildender Künstler geworden, nach drei Semestern des Kunststudiums in Berlin schwenkte er auf das Studium des Designs um. Sein weiteres großes Interesse galt schon seit den 1980er Jahren Sigmar Polke. „Einen Meter Literatur“ über den Künstler habe er im Regal stehen, so Behrla. Er hat viele interessante Informationen über Polkes Zeit in Willich zusammengetragen.
Behrla konnte über die Polke-Expertin und Professorin für Kunstgeschichte in Düsseldorf, Ulli Seegers, Kontakt zu Lucy Degens aufnehmen. Die Masterstudentin suchte ein Forschungsthema für ihre Arbeit und fand es in der Geschichte der Willicher Jahre von Sigmar Polke. Das Besondere: „Von der Willicher Kulturstiftung der Sparkasse Krefeld hat der Willicher Kunstverein die Zusage zur finanziellen Unterstützung der Publikation der Masterarbeit von Lucy Degens erhalten“, erklärt Behrla.
Der später so berühmt gewordene Maler Sigmar Polke lebte von 1972 bis 1978 in Willich. Geboren wurde er 1941 im schlesischen Oels. Die Familie floh 1953 nach West-Berlin und zog dann nach Düsseldorf. Dort absolvierte Polke zunächst eine Glasmalerlehre bei der Firma Derix und studierte von 1961 bis 1967 an der Kunstakademie Düsseldorf bei Karl Otto Götz und Gerhard Hoehme. 1970 erhielt Sigmar Polke eine Professur an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste. 1972 – also im Jahr seines Umzugs auf den Gaspelshof – nahm er an der Documenta 5 in Kassel teil.
Polkes Karriere hatte also gerade Fahrt aufgenommen, er war in den Fachkreisen bereits geschätzt, als er an den Niederrhein kam. Gemeinsam mit seiner Freundin Mariette Althaus mietete er das Haupthaus im Gaspelshof an. Hier war genug Platz für seine Studenten und Künstlerfreundinnen und Künstlerfreunde. Zu ihnen gehörten Katharina Sieverding und ihr Mann, Julian Schnabel, Gilbert & George, Candida Höfer – es liest sich wie ein „Who is Who?“ der Kunstszene. Auch der Kunsthistoriker Götz Adriani mit seiner Frau und Kunstkritiker und Kurator Klaus Honnef waren zu Gast.
In einem Katalogbeitrag zu einer Ausstellung im Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) Karlsruhe aus dem Jahr 2001/2002 schreibt Evelyn Weiss über ein Treffen mit Polke, das sie „beschwerlich und einfach zugleich“ nennt: „Musste man doch eine längeren Reise auf dem Lande unternehmen, um zum Gaspelshof in Willich zu gelangen, einem großen Bauerngehöft inmitten von Rübenfeldern zwischen Köln und Düsseldorf. Ein geschotterter Weg mit Pappeln führte dahin. Manchmal war das Telefon gesperrt, dann musste man Telegramme schicken… Einfach war es, weil im Gaspelshof die Türen immer offen standen ...“.
Die Künstlerinnen und Künstler auf dem Gaspelshof begannen, gemeinsam Kunstwerke zu produzieren – ein Bruch mit der hochgepriesenen Autorschaft eines einzigen Künstlers. Das war nicht der einzige Bruch: Polke lehnte wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen die Konventionen des Kunstmarktes ab. In die Willicher Zeit fiel die Entwicklung einer neuen Technik des Künstlers: die Schüttbilder. Es ist ein Spiel mit dem gelenkten Zufall, das Polke treibt. Er lässt dabei die Farbe über den Bildgrund (gerne keine klassische Leinwand, sondern gebrauchte Stoffe) fließen, wobei er das Bild dreht, um besondere Effekte zu erzielen.
Längst sind die Zeiten vorbei, zu denen etwas skeptisch von „den Hippies“ gesprochen wurde. Mittlerweile befindet sich an der Fassade des Gaspelshof eine Plakette, die den besonderen Kurzzeit-Bürger ehrt. Auf besondere Weise scheint der Gaspelshof seine kreative Energie in seinen Wänden erhalten und an die neuen Bewohner weitergegeben zu haben: Eine Gruppe aus dem Gaspelshof betreibt seit Februar das neue, mit Unterstützung der Stadt Willich geförderte Willicher Kino im ehemaligen Kinosaal.