50 Jugendliche lernen das Lebenretten
Das Jugendrotkreuz (JRK) probte in einem 24-Stunden-Einsatz den Ernstfall. Das Szenario beeindruckte: Die „Verletzten“ waren täuschend echt geschminkt.
Der abgerissene kleine Finger blutet noch, eine Lache breitet sich unter dem Eichenblatt aus. Nebenan wimmert und schreit die ehemalige jugendliche Besitzerin des Körperteils um Hilfe, hat den Gliedmaßenstumpf behelfsmäßig abgedrückt. Eine Freundin spendet ihr Trost. Ihr klafft eine formidable Platzwunde quer über die Stirn. Und nichts tut sich. Dabei waren doch schon vor fünf Minuten die Martinshörner am Ort des Geschehens zu hören, den vergessenen Autobahnabschnitt an der A 44, Mönchengladbach-Ost. Wo bleiben denn die Sanitäter?
An die 50 Jugendliche, die sich dem Jugendrotkreuz Mönchengladbach zugehörig fühlen, nebst jugendlichen Rotkreuzlern aus dem Kreis Viersen und Grevenbroich, beteiligten sich am Wochenende an der „24-Stunden-Rettungswache“, während der sie einen (fast) täuschend echten Einblick in den Alltag eines Rettungssanitäters am eigenen Leib erfuhren. 24 Stunden volles Programm. Vom anaphylaktischen Schock übers kaputte Sprunggelenk bis zum Herzinfarkt. Und der Einsatz auf der Autobahn ist nur einer unter vielen.
Der spektakulärste allerdings. Die Lage: Übers Volksfestzelt ist ein Gewitter niedergegangen. Das Zelt ist in Fetzen, die Besucher sind teils schwerst verletzt. Einem ragt eine Eisenstange aus dem Bauch, ein anderer stöhnt unter einem halben Baum hervor, einen Dritten hat ein Grill unter sich begraben — die „Brandverletzungen“ sind wirklich nichts für Zartbesaitete. An die 20 Verletzte verteilen sich über eine Strecke von vielleicht 200 Metern, stöhnen aus dem Gebüsch, sind ins Feld geschleudert, haben sich unter einem Zeltfetzen geborgen.
Annika Haupt hat ganze Arbeit geleistet. Die 18-Jährige ist seit fünf Jahren beim JRK, hat etliche Kurse zum Verletzten-Schminken absolviert und in Celine Todoric, 18, eine begabte Mitstreiterin in Sachen Gelatine und Lebensmittelfarbe gefunden. Die beiden haben ihrer Gruppe am Vormittag so manche eklige Wunde beigebracht.
Rene Hartmann, Leiter Ehrenamt JRK, René Schmitz als Stellvertretender Kreisleiter JRK und Christian Grunow als Verantwortlicher für die Notfallorganisation haben mit etlichen weiteren jungen Erwachsenen die Wochenendübung geplant und jetzt alle Hände voll zu tun. Mit neun Fahrzeugen und ohrenbetäubendem Lärm sind die Sanitäter angerückt. Hatte sich schon im Sprechfunk angedeutet. Jetzt stockt der Tross erst mal in der Auffahrt, weil dort ein Ohnmächtiger den Weg versperrt.
Lukas Keller, 17, sitzt im Führungsfahrzeug. Er ist als Zugführer Einsatzleiter der Aktion. Und im Stress. Einerseits den Verletzten retten, andererseits Kollegen rausschicken, die sich einen Überblick über die Lage verschaffen, drittens sich selbst ein Bild von den Verletzten machen, einschätzen, wie erheblich die Schäden sind, Rettungssanitäter anfordern. Gut, dass er einen „echten“ Kollegen dabei hat, der ihm alles erklärt.
„Das ist rot“, beurteilt Lukas Keller die Verfassung des Jungen mit der Stange im Bauch. Lebensbedrohlich. Und deshalb vordringlich. Drei solcher Fälle liegen hier herum, dazu acht gelbe (ernst) und zwölf grüne (leicht verletzt).
Langsam kommt Leben in die Retter, 23 an der Zahl. Tragen werden angerollt, Verbände gelegt, Puls gefühlt, abgebunden, geschient. Lara Landscheidt aus Viersen hat die Rolle der Störerin übernommen. Sie pöbelt, was das Zeug hält, mit Bierflasche in der Hand. Für sie wird die Polizei angefordert.
„Für mich war so eine Übung vor zwei Jahren mit der Grund, dabeizubleiben“, sagt René Schmitz. Jetzt leitet er den Einsatz. Gleich geht’s noch zur Flächensuche in den Volksgarten — eine Person wird vermisst. Aber davon weiß vorerst nur der Dienstplan. Und dann gibt’s ja noch das Grillfest. Ohne Alkohol und Zigaretten. Die Würstchen (und mehr) sponsert Borussia. Die junge Frau ohne Finger hat auch wieder Appetit. War ja nur eine Übung.