Geschichten jüdischer Schicksale
Stadtführer Roman Matusevich beschäftigt sich mit dem Leben jüdischer Bürger.
Mönchengladbach. Felix Coenen führte die sechstgrößte Tuchfabrik Deutschlands mit 1400 Beschäftigten. Er kämpfte als Soldat im Ersten Weltkrieg und bekam dafür das Eiserne Kreuz. Für 2,75 Millionen Reichsmark verkaufte er sein Unternehmen, noch bevor es arisiert werden konnte, und emigrierte zunächst nach Holland später in die USA. Bis dahin lebte er in dem Haus an der Schillerstraße 57. Im Jahr 1964 kam er noch einmal nach Mönchengladbach. Luis Raphaelson wohnte auf der Kaiserstraße 108. Er gründete den Gladbacher Orchesterverein, war Initiator des Städtischen Orchesters, das 1903 zur Einweihung der Kaiser-Friedrich-Halle spielte, und gehörte zum Vorstand des Gesangvereins Cäcilia. Er starb 1914.
Sie haben einmal hier gelebt, viele sind ermordet worden, einige sind emigriert und haben Mönchengladbach nach 1945 noch einmal besucht. Alle hatten sie ein Leben, ein Schicksal, einen Namen und einen Ort, an dem sie zu Hause waren. Roman Matusevich hat einige dieser Geschichten jüdischer Mitbürger zum Leben erweckt: „Ende des 19. Jahrhundert gehörten viele Fabriken jüdischen Unternehmern. Sie waren angesehene und bekannte Bürger dieser Stadt“, erzählt das Mitglied der jüdische Gemeinde. Im Rahmen der Jüdischen Kulturtage zeigte er ihre ehemaligen Häuser im Eickener Gründerzeitviertel.
Insgesamt 15 Stationen, angefangen von der Hausnummer 83 an der Schillerstraße über die Kaiser- und Blücher- bis zur Mozartstraße, hat er dafür ausgesucht. Vor 15 Jahren ist der Stadtführer selbst aus Russland nach Mönchengladbach gekommen: „Die Geschichte der Juden, die hier lebten, interessiert mich“, erzählt Roman Matusevich. Informationen über einzelne Schicksale fand er in der Stadtbibliothek und in Publikationen: „Auch die fünf Zeitzeugen, die es noch in unserer Gemeinde gibt, haben mir etwas erzählt.“
Für die rund 50 Teilnehmer des Spaziergangs durch die ehemalig blühende jüdische Kultur in Mönchengladbach erinnerte Matusevich etwa an die Geschichte von Ida Lukas. Die Vorsitzende des Israelischen Frauenvereins lebte an der Schillerstraße 58, ihr altes Haus steht heute nicht mehr. Sie hatte zwei Söhne und war mit dem Baumwollfabrikanten Joseph Lukas verheiratet. Ida Lukas sorgte dafür, dass die Frauen in dem Verein 1927 Wahl- und Stimmrecht erhielten. Im Dezember 1938 wanderte sie nach Glasgow aus und starb im Jahr 1958.
Auch Lilli Kretzmer war als Vorsitzende aktiv, allerdings für den Jüdischen Frauenbund in Mönchengladbach. Mit ihrem Mann Egon Kretzmer, einem Hautarzt, lebte sie an der Schillerstraße 53. Nach der Pogromnacht wurden ihr Mann und Sohn Alfred von den Nazis nach Dachau gebracht. Über ehemalige Patienten gelang es Lilli Kretzmer jedoch, die beiden frei zu bekommen. Ihre humanitäre Tätigkeit setze die ehemalige Mönchengladbacherin im amerikanischen Exil fort und erhielt dafür 1966 das Bundesverdienstkreuz.