Jugendamt registriert mehr Fälle von Kindeswohlgefährdung
Die Zahl der Verdachtsfälle ist im vergangenen Jahr auf 277 gestiegen. In 26 Fällen lag eine akute Gefährdung des Kindes vor.
Ein Kinderzimmer mit einem völlig verdreckten Gitterbettchen, in dem ein übergelaufenes Töpfchen neben angegessenen Keksen steht. Ein Kühlschrank voller Schimmel. Und der Boden in der kompletten Wohnung übersät mit Abfall, gebrauchter Kleidung, vergammelten Essensresten, leeren Flaschen und Zigarettenstummeln. Beim Jugendamt lagern tausende Fotos, die solche Zustände dokumentieren, aufgenommen in Mönchengladbacher Wohnungen. Wenn Jugendamtsmitarbeiter in solchen Wohnungen hilflose Kinder vorfinden, dann ist klar: Hier ist eine Inobhutnahme notwendig.
Und auch dieser Fall ist wirklich geschehen: Jugendamtsmitarbeiter besuchen eine Mönchengladbacher Familie mit einem Säugling und einem Kleinkind an einem Samstag. Die Einkäufe haben die Eltern nach eigenen Angaben erledigt. Aber im Kühlschrank stehen nur alkoholische Getränke, an denen sich der Vater schon reichlich bediente, im Eisfach liegt Tiefkühlpizza. Zigaretten sind auch da. Aber in der ganzen Wohnung gibt es keine Babynahrung, kein frisches Obst, keine saubere Windel.
Eigentlich gilt: Wenn es eben möglich ist, sollen Kinder bei ihren Eltern bleiben. In diesem Fall ging es nicht.
Die Fälle von Kindeswohlgefährdung haben in Mönchengladbach im vergangenen Jahr zugenommen. Insgesamt 277 Verdachtsfälle gingen im Jahr 2016 beim Gladbacher Jugendamt ein, ungefähr 50 mehr als noch im Jahr davor. Davon stellten die Jugendschützer in 26 Fällen tatsächlich eine akute Kindeswohlgefährdung etwa in Form von Vernachlässigung oder Misshandlung fest und griffen ein (2015: 28 Fälle). Davon waren auch sechs Kinder unter drei Jahren betroffen. In solchen Fällen nehmen die Jugendschützer die Kinder unter Umständen aus den Familien und bringen sie anderweitig unter.
Auffällig ist: Die Zahl der Fälle, in denen die Stadt eine latente Kindeswohlgefährdung erkannte, hat sich fast verdoppelt auf 87. Von latenter Kindeswohlgefährdung sprechen die Experten dann, wenn Eltern mit ihren Kindern überfordert sind, aber die Familie mit Unterstützung von etwa Therapeuten oder Kinderkrankenschwestern stabilisiert werden kann. Hilfen zur Erziehung nennt sich das. Allein für dieses Jahr kalkuliert die Stadt mit mehr als 70 Millionen Euro an Ausgaben, weil Familien mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind und Unterstützung brauchen.
Sozialdezernentin Dörte Schall (SPD) sagt, es habe glücklicherweise nicht mehr Fälle akuter Kindeswohlgefährdung gegeben als im Vorjahr. Dass die Verdachtsfälle deutlich mehr geworden sind, führt sie auf eine gestiegene Aufmerksamkeit zurück. „Bei Nachbarn, Angehörigen, Lehrern und Erziehern ist die Aufmerksamkeit deutlich gewachsen. Wer eine Auffälligkeit bemerkt, meldet das auch häufiger dem Jugendamt“, sagt Schall. Erzieher würden dazu auch konkret geschult, genau hinzuschauen und hinzuhören. „Man sieht, ob der blaue Fleck von einem Sturz von der Rutsche stammt oder ob das Kind die Treppe herunter gefallen ist“, sagte Schall.
Von den 277 Meldungen an die Stadt kamen 13,7 Prozent von Schulen, Kitas oder Tagespflegepersonen. Jede vierte Meldung kam von Verwandten oder Bekannten der betroffenen Familie. Und in 34 Fällen wandten sich Polizei, Gericht oder Staatsanwaltschaft an das Jugendamt.