Landesparteitag in Neuss Rückenwind für neue grüne Bildungspolitik
Neuss · Die Delegierten in Neuss unterstützen einstimmig die Neupositionierung des Landesvorstands. Die Schulen vor Ort sollen mehr Autonomie erhalten.
Auch Rückenwind kann einen umpusten, wenn er zu stark ausfällt. Die Grünen suchen nach den Wahl- und Umfrageerfolgen nach Wegen, dass ihnen das nicht passiert – umso mehr in NRW, wo der Entwicklungssprung noch mal größer ausfiel. Der Landesparteitag in der Stadthalle Neuss ist ein erstes Testfeld dafür.
Der Freitagabend ist noch dem Selbstfeiern vorbehalten. Das Interesse ist so groß, dass die Partei die Gästeliste für die begrenzten Besucherplätze schließen muss. Die Bundesvorsitzende Annalena Baerbock mahnt: „Es ist wichtig, dass wir jetzt auf dem Boden bleiben.“ Der derzeitige Zuspruch sei kein Selbstläufer. „Wenn wir jetzt bequem werden und sagen, es ist alles schon geritzt, dann wird das in ein paar Monaten schon wieder ganz anders aussehen.“ Standing Ovations sind ihr sicher.
Nein, ein Selbstläufer ist der Zuspruch nicht. Mittlerweile 16 400 Mitglieder sind rund 4000 mehr als nach der Landtagswahl 2017. Viele von ihnen werden sich in rasantem Tempo auf den Kommunalwahllisten für 2020 wiederfinden – trotz ihrer Unerfahrenheit. Gleichzeitig stellen sich in vielen Großstädten Fragen nach Oberbürgermeister-Kandidaten. „Ich will Abgeordneter in Berlin bleiben“, dementiert der frühere Landesvorsitzende und jetzige Bundestagsabgeordnete Sven Lehmann an Rande des Parteitages das Interesse an einer Kandidatur in Köln. Das gilt auch für den NRW-Fraktionsvorsitzenden Arndt Klocke.
In Düsseldorf sind mit Klockes Amtskollegin Monika Düker, dem Landtagsabgeordneten Stefan Engstfeld, der Landesvorsitzenden Mona Neubaur und Miriam Koch, OB-Kandidatin von 2014, gleich vier Namen im Spiel. Anfang Juli soll erst einmal die Grundsatzfrage entschieden werden, ob es in der Landeshauptstadt 2020 einen eigenen Kandidaten gibt.
Auf Landesebene schlagen die Grünen in Neuss zwei thematische Pflöcke ein: bei der Bildung und der Digitalisierung. Einstimmig nehmen die 284 Delegierten die in einer Kommission unter Leitung des Landesvorsitzenden Felix Banaszak in acht Monaten vorbereiteten Eckpunkte für eine neue Bildungspolitik der NRW-Grünen an.
Die wesentlichen Punkte: Der Hauptschule geben die Grünen keine Zukunft mehr, wichtigste Schulformen seien Gymnasien und Gesamtschulen. Sekundarschulen sollen in Gesamtschulen umgewandelt werden oder in diesen aufgehen. Schulversuche, in denen ohne Schulwechsel von der 1. bis zur 10. Klasse gemeinsam unterrichtet wird, sollen ausgeweitet werden. Gefordert wird auch der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz, zunächst mindestens bis zum Ende der 6. Klasse.
Vom Inklusionsgedanken rücken die Grünen nicht ab, treten aber auf die Bremse. Als Zwischenschritt ist an besonders ausgestattete Vorreiterschulen gedacht. Den Schulen insgesamt soll mehr Autonomie zugestanden werden. Und wo die Herausforderungen am größten sind, soll es auch die größte finanzielle Unterstützung geben. Man wolle, so Banaszak, beim Thema Bildung, das mitentscheidend für die Wahlniederlage 2017 war, „wieder aus der Defensive in die Offensive kommen“.
Ex-Schulministerin Löhrmann lobt den Bildungsantrag
Es zählt zu den bewegenden Momenten des Parteitages, dass eine der vielen lobenden Äußerungen für Banaszaks Vorarbeit ausgerechnet aus dem Mund der früheren Schulministerin Sylvia Löhrmann kommt: „Der Prozess ist gut für die Partei, für die Sache und auch gut für mich.“ So souverän haben nicht alle einstigen Entscheider den Rückzug in die Schmollecke vermieden.
Wie sehr das Thema Bildung die Partei nach den Erfahrungen aus der rot-grünen Regierungszeit aufwühlt, zeigt die Zahl der 120 Änderungsanträge. Am Ende bleibt nur einer zur Abstimmung übrig. Und er macht deutlich, dass die Grenze zwischen Utopie und Realismus bei den Grünen nach wie vor durchlässig ist: Nur knapp scheitert der Vorstoß der Grünen Jugend für eine Schule für alle und einen Abschied vom sechsgliedrigen Schulsystem mit Gymnasien, Gesamt-, Real-, Haupt-, Sekundar- und Förderschulen. Banaszaks Gegenrede: „Wir brauchen nicht die eine Schule für alle, sondern alle Schulen für alle Schüler.“
Auch die Parteitagsinszenierung soll demonstrieren: Die Grünen gehen mit der Zeit. Ein Laufsteg führt ins Publikum, viele Redner sprechen frei, kaum einer nutzt das klassische Rednerpult. Wer auf Notizen nicht verzichten will, legt sie auf ein durchsichtiges Pult, das kaum auffällt.
Beim Thema Digitalisierung mit der Zeit gehen, heißt für die Grünen, die Gestaltungsmöglichkeiten zu betonen. „Digitalisierung ist nichts, was über uns kommt“, sagt die Landesvorsitzende Mona Neubaur. „Wir fragen uns: Nutzen die Prozesse den Menschen? Nützen sie der Autonomie? Geht es darum, den Menschen zu stärken?“ Man wolle die Digitalisierung nicht geschehen lassen, ergänzt der grüne Digitalexperte Matthi Bolte-Richter, „und sie nicht den Konzernen überlassen, sondern aktiv gestalten.“
Ein zentraler Gedanke, auch mit Blick auf die bevorstehenden Kommunalwahlen im kommenden Jahr: „Die öffentlichen Betriebe sollen Taktgeber vor Ort sein“, sagt Neubaur. Das könne Stabilität im Umbruch gewährleisten. Am Ende erhält auch dieser Antrag das einstimmige Votum der Delegierten.
Interner Rückenwind also für die Neupositionierung der NRW-Grünen auf zwei zentralen Themenfeldern. Der Beweis, ob die Partei damit auch gestärkt ist, vom Rückenwind der externen Erwartungen nicht überrollt zu werden, steht noch aus. Die nächste Bewährungsprobe: bei den Kommunalwahlen im September 2020.