Statt Erholung drohten Prügel, Isolierung, Demütigung „Verschickungskinder“ fordern Anerkennung

Düsseldorf · Zwischen 1945 bis in die 1980er-Jahre wurden Kinder von ihren Eltern mit guter Absicht in Kinderkuren geschickt. Doch für viele Kinder war es die reinste Höllenfahrt.

Das Privatfoto aus dem Jahr 1954 zeigt Christoph Sandig aus Leipzig, Jahrgang 1946, in einer Kinderheilstätte in Westdeutschland. Dorthin war er wegen mehrerer Lungenentzündungen geschickt worden.

Foto: dpa/-

Das Heulen des Windes, Pipimachen in den Nachttopf im Schlafsaal, das Weinen und Wimmern der anderen Kinder – nie wird Dirk P. diese Geräusche vergessen. Ende der 60er Jahre – er war erst fünf Jahre alt – wurde er in eine Kinderkur nach Süddeutschland verschickt. Der Zweck: Gewichtszunahme. Dirk P. war zu dünn für die Einschulung und wurde sechs Wochen zum Essen gezwungen.

Dirk P. war eines von geschätzt bis zu zwölf Millionen „Verschickungskindern“, die nach 1945 bis in die 1980er Jahre von ihren Eltern in guter Absicht in wochenlange Kinderkuren geschickt wurden – an die Nordsee, in den Harz und in den Schwarzwald. Doch viele der Mädchen und Jungen im Alter von zwei bis 14 Jahren erwarteten statt Erholung in den Heimen Schlafentzug, Schläge, Toilettenverbot, Isolierung, Entzug von Essen und Trinken oder Zwangsmahlzeiten.

Erschütternde Berichte Betroffener sind auf der Webseite www.verschickungsheime.de zu lesen: Trinkverbot bei Bettnässen, Duschen im Keller mit dem Gesicht zur Wand, während kochend heißes Wasser aufgedreht wurde. Besuchsverbot für Eltern, Zensur der Briefe an zu Hause. Schläge durch die „Tanten“, Erbrochenes aufessen, nächtliches Strafsitzen im kalten Flur. Einst fröhliche Kinder kehrten oft verängstigt nach Hause zurück. „Schwarze Pädagogik“ werden die grausamen Methoden in der Fachwelt genannt. Heute sind die „Verschickungskinder“ oft schon im Rentenalter – doch ihre Erfahrungen in den Kurheimen haben sie ihr Leben nicht losgelassen. Viele berichten von lebenslanger Schlaflosigkeit, Depressionen und Verlassenheitsgefühlen.

Auf Antrag der SPD beschäftigte sich am Montag eine Expertenanhörung im Landtag mit dem Schicksal der „Verschickungskinder“. „Wir stehen am Beginn der Aufarbeitung eines weiteren dunklen Kapitels deutscher Nachkriegsgeschichte und der damals geltenden Sicht auf das Kind“, sagte der familienpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Dennis Maelzer. SPD wie auch CDU, Wissenschaftler und Kirchen sprechen sich für eine bundesweite Aufarbeitung aus.

„Wir wurden verschickt, um gesund zu werden, vor allem, an Gewicht zuzunehmen, etliche mehrfach“, schreibt Maria Dickmeis, Vorstand des Vereins zur Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW. „Wir wurden von unseren Familien getrennt, jeglicher Kontakt wurde unterbunden. Einige von uns waren gerade mal vier Jahre alt. Und: wir kamen zu Tausenden gedemütigt zurück, durch physische und psychische Gewalt geschädigt.“

Noch geht es den Betroffenen nicht um individuelle Entschädigungen, sondern um die Anerkennung ihres Leids. Die bundesweit agierende Initiative Verschickungskinder fordert Finanzmittel von mindestens drei Millionen Euro für eine zentrale Bundesstelle und Landesgruppen, die beraten und vernetzen sollen. Außerdem müssten Archive geöffnet und das Thema wissenschaftlich aufgearbeitet werden.

„Man kann sich das erfahrene Unrecht und Leid nicht vorstellen, deshalb ist es umso wichtiger, dass wir den Betroffenen helfen, ihre Geschichte aufzuarbeiten und sich selbst und ihren Lebensweg besser zu verstehen“, sagt auch Maelzer. „Sie haben nach der Demütigung in der Kur jahrzehntelang Bagatellisierung oder Ignoranz erfahren.“

Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hatte im vergangenen Oktober eingeräumt, die Aufarbeitung stehe noch ganz am Anfang. Es werde aber „Zeit, Licht in das Dunkel zu bringen und das Leid der Opfer anzuerkennen.“ Eine Arbeitsgruppe im Ministerium wurde eingerichtet. Das Ministerium fördert ein Projekt der NRW-Initiative zur Beratung von traumatisierten ehemaligen Verschickungskindern und Unterstützung von Bürgerforschung. Außerdem wurde eine Kurzstudie in Auftrag gegeben.

Auffällig sei, dass es Gewalt und Demütigung in allen Heimen und bei allen Trägern gegeben habe, sagt die CDU-Abgeordnete Charlotte Quik. Für sie stecke System dahinter. Bisher sei aber noch nicht aufgearbeitet, wodurch diese Systematik über die Bundesländer, Kurorte und Träger hinweg entstanden sei. „Wir wissen nur: Diese Kinderkuren waren eine Gelddruckmaschine“, sagt Quik.

Kinderkuren seien „ein Massenphänomen der 50er bis 80er Jahre gewesen, schreiben die Kirchen. Bundesweit gab es nach Schätzungen etwa 1000 Heime in unterschiedlicher Trägerschaft. Etwa zehn bis 15 Prozent wurden von den Kirchen und Wohlfahrtsverbänden betrieben. Es gebe „keinen Zweifel daran“, dass auch dort „junge Menschen im Rahmen von Kinderkuren Leid erfahren haben“.

Auch NRW-Kommunen und Unternehmen betrieben Kurheime etwa auf Nordseeinseln, schreibt die Abteilung für westfälische Landesgeschichte des Historischen Seminars der Universität Münster. Zahlreiche Stellen seien an der Organisation der Kinderholungskuren beteiligt gewesen. Dokumente lägen teils bundesweit verteilt in Landes-, Kirchen- oder Unternehmensarchiven. Die Gründung einer NRW-Projektstelle könne Betroffenen bei Recherchen helfen. Gleichwohl, so die Historiker, seien nicht alle von den Kinderkuren traumatisiert worden. Einige verbänden sogar positive Erinnerungen damit. Ihre Perspektive müsse bei einer wissenschaftlichen Aufarbeitung mitgedacht werden.

Im Archiv des Landschaftsverbands Rheinland (LVR), der selbst kein Träger solcher Heime war, wurde ein auf das Jahr 1951 geschätztes Schriftgut zu „Richtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen für Kindervollheime“ gefunden: ein Strafenkatalog. Erlaubt waren damals etwa Ausschluss von Spielen, Wanderungen oder Festen, Entzug von Taschengeld sowie Nachtisch, Gebäck und Süßigkeiten, Isolierung. Verboten war „körperliche Züchtigung jeder Art“. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung wurde erst 2000 in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen.