Die Lese-Oma nimmt sich viel Zeit
Nach ihrer Pensionierung suchen viele Rentner eine sinnvolle Beschäftigung. Doris Stracke-Egermann hat sie gefunden.
Osterath. Ein Lächeln breitet sich auf ihrem sonst so ernst wirkenden Gesicht aus, als das erste Kind an diesem Nachmittag die Stadtbibliothek in Osterath betritt. Doris Stracke-Egermann begrüßt die kleine Anna herzlich, setzt sich mit ihr in die Leseecke und zeigt dem Mädchen die Bücher, die sie heute vorlesen möchte.
Seit über einem Jahr liest Stracke-Egermann etwa einmal im Monat ehrenamtlich für Kinder. Im Ort ist sie bekannt, viele Kinder kommen zu jeder angebotenen Lesestunde wieder. Nach Anna treffen noch Lucia, Melissa und Kati ein. Alle wollen neben der Lese-Oma sitzen, wie sie sich selber gerne scherzhaft nennt.
Dabei wirkt Doris Stracke-Egermann nicht so, wie man sich eine Großmutter vorstellt. Sie sprüht geradezu über vor Energie. Vor einigen Jahren ist sie in Rente gegangen — für sie keineswegs ein Grund zum Jubeln. „Ich finde das Rentnerdasein schrecklich. Ich möchte mich nützlich machen, etwas bewegen und helfen.“
Da kam ihr das Angebot einer Bekannten, ehrenamtlich für Kinder zu lesen, gerade recht. Besonders begeistert ist die Rentnerin von den Emotionen, die sie durch das Vorlesen bei den Kindern auslöst. „Kinder haben eine unglaubliche Fantasie. Das fasziniert mich immer wieder“, sagt sie.
Umso merkwürdiger scheint es, dass sie selber nie Mutter geworden ist. „Dafür hat sich einfach nie die Gelegenheit ergeben und ich bereue diese Entscheidung auch nicht“, erzählt sie. „Aber jetzt für die Kinder lesen zu dürfen, ist eine wunderbare Erfahrung, die ich nicht missen möchte.“
Viele Mütter würden einen stressigen Alltag haben. „Ich kann verstehen, dass sie oft wenig Zeit finden, ihren Kindern vorzulesen. Ich übernehme diese Aufgabe gerne, denn ich halte Lesen für etwas überaus Wichtiges. Ich selber habe dafür jetzt mehr Zeit, seit ich nicht mehr arbeite.“
Aber nicht nur zum Lesen nutzt die ehemalige Angestellte ihre neu gewonnene Zeit. Sie treibt täglich Sport. Und vor einiger Zeit hat sie sich einen großen Traum erfüllt.
„Schon immer wollte ich mit meiner Schwester den Jakobsweg gehen, zumindest so viel wie wir schaffen. Und immer haben wir es verschoben. Aber als es dann die Ausrede der Arbeitsüberlastung nicht mehr gab, sind wir los.“ Über 200 Kilometer haben sie zu Fuß zurückgelegt. „Es war ein einmaliges Erlebnis“, erinnert sich Stracke-Egermann begeistert.
Gerade noch hat Anna erzählt, dass sie beim Zahnarzt war und jetzt ihre linke Wange ein klein wenig wehtut. Fast eine Stunde lang hat Stracke-Egermann für die Kinder gelesen — jetzt lässt deren Aufmerksamkeit nach. „So sind die Kinder nunmal“, sagt die Lese-Oma lächelnd, klappt zufrieden ihre Bücher zu und verabschiedet sich von den vier Mädchen.