Interview Sandra Pienta Was Kinder vor Tätern schützt

Meerbusch · Die Sozialpädagogin berät Schulen, Kitas und andere Träger in der neuen städtischen Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt.

Täter kommen oft aus dem Umfeld. Aus Schutz für die Betroffenen möchte unsere Interviewpartnerin für die Täter nicht sichtbar sein.

Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Das Gespräch führte

Dominik Schneider

Frau Pienta, worin besteht Ihre Arbeit in der neuen Fachstelle?

Sandra Pienta: Zum einen betreibe ich Präventionsarbeit. Dabei geht es um Arbeit in Gremien und Netzwerken, um die Entwicklung von Schutzkonzepten und um die fachliche Unterstützung von Schulen und Kindertagesstätten. Dazu kommt die Intervention und Einschätzung bei konkreten Fällen von Kindeswohlgefährdung, zuletzt geht es um die Durchführung konkreter Maßnahmen.

Die Grundlage der Präventionsarbeit sind ja die Schutzkonzepte. Worum geht es da konkret?

Pienta: Es geht darum, in den jeweiligen Einrichtungen zusammen mit den Fachkräften eine Haltung zum Kinderschutz zu entwickeln. Wie gehen Fachkräfte mit Nähe und Distanz um? Welchen Schutz haben Kinder in der Einrichtung? Wo ziehen sie sich um? Ist der Raum vor fremden Blicken geschützt? Dabei geht es teils um bauliche Aspekte, etwa von wo Außengelände einsehbar sind.

Aber es geht auch um die Sensibilisierung der Menschen, die mit den Kindern arbeiten.

Pienta: Richtig. Es ist ganz wichtig, in der Erziehung ein gesundes Verhältnis von Nähe und Distanz aufzubauen, die persönliche Haltung zu überdenken und auch die Grenzen des Kindes zu berücksichtigen, selbst, wenn es selbst sie nicht einfordert.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Pienta: Nehmen wir eine Übernachtungsveranstaltung in einer Kita. Ein Kind kann nicht einschlafen und ist traurig. Wie verhält sich eine Erzieherin? Setzt sie sich aufs Bett, streichelt sie das Kind, oder legt sie sich gar zu ihm und kuschelt? Im letzten Fall werden ganz klar die Grenzen des Kindes überschritten. Das ist auch immer eine Frage der kulturellen Prägung auf beiden Seiten, verschiedene Kulturen gehen mit diesem Verhältnis von Nähe und Distanz ganz unterschiedlich um. Es geht uns auch nicht darum, diese Prägungen in Frage zu stellen, aber sehr wohl darum, sie sich bewusst zu machen.

Wie wichtig ist es, Kinder schon im jungen Alter auf diese Weise zu sensibilisieren?

Pienta: Sehr wichtig. Denn schon diese Zeit kann sehr prägend sein für ihr späteres Verhalten – obwohl Kinder sich häufig nicht trauen, in unangenehmen Situationen selbst Grenzen zu ziehen, da immer Macht und Abhängigkeiten eine Rolle spielen und Kinder es als Selbstverständnis ansehen. Wenn die Kinder schon in der Kita ein gesundes Verhältnis von Nähe und Distanz entwickeln können, schützt sie das später vor den Strategien der Täter.

Sind sich die jeweiligen Mitarbeiter dieser Verantwortung bewusst?

Pienta: Ich schaue, wo es Strukturen gibt, die Machtstrukturen ermöglichen. Aber die allermeisten Einrichtungen schützen ihre Kinder angemessen. Unser Ziel ist erreicht, wenn Fachkräfte ins Überlegen und Handeln kommen. Aber ein solches Konzept muss auch immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden, da es ja immer neue Kinder, neue Mitarbeiter und auch eine neue räumliche Situation gibt.

Richtet sich die Prävention auch an die Kinder?

Pienta: Ja. Vor allem im Schulalter gibt es ja Programme zur Aufklärung, die auch in Meerbusch angewandt werden, etwa „Mein Körper gehört mir“ und „Die große Nein-Tonne“. Es geht darum, den Kindern aufzuzeigen, welche Grenzen sie einfordern können, aber auch darum, nicht zu stigmatisieren. In den Schutzkonzepten ist immer auch ein Beschwerdemanagement verankert, dass festlegt, an wen sich Kinder wenden können.

Die Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt richtet sich aber nicht nur an Kinder.

Pienta: Genau. Denn jede Einrichtung, die mit Kindern arbeitet, muss ein individuelles Schutzkonzept vorweisen. Wir haben dies inzwischen mit allen neun städtischen Kitas und zwei Kitas freier Trägerschaft in Meerbusch getan, stehen aber auch anderen Trägern zur Seite – wenn diese es wollen. Hier ergeben sich dann neue Fragestellungen. Wie viel Körperkontakt ist etwa beim Sport zwischen Trainer und Schüler erlaubt? Darf ein Trainer oder eine Trainerin die Mannschaft nach dem Training nach Hause fahren, ist es okay, wenn am Ende nur noch ein Kind im Auto sitzt? Auf der Trägerebene fördert die Stadt Meerbusch das erweiterte Führungszeugnis bei Bewerbungsprozessen. Und allein schon, ein Schutzkonzept im Bewerbungsgespräch anzusprechen, schreckt häufig potenzielle Täter ab. Diese Konzepte sollten auch immer öffentlich einsehbar sein.

Können solche Vorgaben – gerade im stressigen Kita-Alltag – immer eingehalten werden?

Pienta: Ich habe selbst 30 Jahre Berufserfahrung als Leitung von unterschiedlichen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Kindertageseinrichtungen und der Beratung von Fachkräften und Familien und kenne dadurch die Realität.
Mit dieser Erfahrung kann ich Bedenken häufig im Vorfeld ausheben. Natürlich ist es im Alltag oft hektisch, aber wir arbeiten immer gemeinsam daran Lösungen zu finden, mit denen der Schutz der Kinder in das jeweilige Konzept eingebaut werden kann.

Wie geht Ihre Arbeit jetzt weiter?

Pienta: Wir schließen gerade die Schutzkonzeptarbeit für die letzten der städtischen Kitas ab. Danach werden wir unsere Präventionsarbeit auf die Schulen richten. Außerdem gab es bereits Anfragen von anderen Organisationen, die um Unterstützung bei der Erstellung von Konzepten bitten.

Ist diese Fachstelle in Meerbusch einzigartig?

Pienta: Jede Kommune kann eine solche Stelle einrichten, das Land bietet die Möglichkeit, sich um eine Förderung zu bewerben. NRW gehört mit diesem Konzept zu den Vorreitern, das Ziel ist eine solche Fachberatung flächendeckend aufzubauen.

Das klingt nach einem langwierigen Prozess.

Pienta: Tatsächlich ist dies die Grundlage einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Langfristig sollen in solche Konzepte Kinder, Eltern, Erzieher, Schulen und Vereine eingebunden werden – wir brauchen ein Umdenken in der Gesellschaft. Aber auch die Städte müssen sich entwickeln, geschützte Räume schaffen, Tatgelegenheiten schon durch die Stadtplanung verhindern. Auch die Sozialen Medien stellen ein weiteres Risiko dar. Hier sehen Kinder vermeintliche Vorbilder, die sich über ihre Körper profilieren. Zugleich können potenzielle Täter hier Kontakt zu möglichen Opfern aufnehmen. Hier muss auch die Medienkompetenz der Eltern – etwa durch Elternabende – geschult werden. Wir müssen das Thema sexualisierte Gewalt an Kindern in all ihren Facetten in die Öffentlichkeit bringen. Darüber zu reden fällt vielen schwer – und diese Hürden abzubauen braucht Zeit. Wir stehen erst am Anfang.