Misshandlungsfall früh erkannt

Die Verhandlung gegen den Vater, der sein Baby misshandelt haben soll beginnt. Das Netzwerk „Frühe Hilfen“ half, das Kind aus seinem Umfeld zu holen.

Neuss. Angeblich war das Kind von der Couch gefallen, doch das konnten die Kinderärzte im Lukaskrankenhaus nicht glauben. Diese Geschichte der Eltern, die ihr nur einige Monate altes Mädchen im März in die Kinderklinik brachten, passte nicht zu den schweren Verletzungen. Die Ärzte alarmierten Polizei und Jugendamt — und hatten Recht. Ab Donnerstag wird dem 20-jährigen Vater der Prozess gemacht. Die Anklage wegen Kindesmisshandlung ist, so makaber das klingen mag, auch ein Erfolg des Netzwerkes „Frühe Hilfen“. Denn es befreite den Säugling aus einem offensichtlich gewalttätigen Umfeld.

Dass Gewalt gegen Kinder so eskaliert, dass der Fall ein Gericht beschäftigt, ist die absolute Ausnahme, betont Stefan Hahn, Jugenddezernent der Stadt Neuss. Das heißt nicht, dass es nur wenige Familien gibt, in denen das Kindeswohl gefährdet ist. Im Gegenteil. Die Zahl der Familien, in denen soziale, wirtschaftliche und gesundheitliche Probleme zu massiven Erziehungsschwierigkeiten führen, steigt, sagt der Jugenddezernent. So mussten allein in diesem Jahr 313 Kinder aus ihrem Umfeld geholt und in Heimen oder bei Pflegefamilien untergebracht werden. Weil, wie Hahn betont, alle in das Netzwerk „Frühe Hilfen“ eingebundenen Stellen die Antennen rechtzeitig draußen hatten. Die Fälle der Kindeswohlgefährdung werden früher entdeckt, sagt Hahn, „es gibt keine Dunkelziffer mehr.“ Kehrseite dieses Erfolges: Die Kosten für die Hilfen zur Erziehung explodieren. In diesem Jahr waren drei Millionen Euro mehr nötig, für 2015 hat der Kämmerer noch einmal 3,2 Millionen Euro zusätzlich veranschlagt.

Schon fünf Jahre bevor das Bundeskinderschutzgesetz „Frühe Hilfen“ 2013 zur Pflichtaufgabe für die Jugendämter machte, hatte der Jugendhilfeausschuss schon dieses Hilfesystem für Familien beschlossen. Die Kindertagesstätten und Schulen sind heute ebenso Teil des Netzwerkes wie die Wohlfahrtsverbände oder aber die Ärzte und Krankenhäuser.

Gerade dort fühlt man sich als Anwalt der Kinder, erklärt Dr. Guido Engelmann, der sich mit seinem Team der Kinderklinik am „Lukas“ in keiner einfachen Situation sieht. Ein vorschnell geäußerter Verdacht einer Kindesmisshandlung oder Kindesvernachlässigung kann schlimmstenfalls Familien zerstören. Allerdings, so der Chefarzt, „dürfen wir keine Misshandlung übersehen“.

Im heute verhandelten Fall wurde der Verdacht von verschiedenen Ärzten und Gutachtern bestätigt. Sie stellten fest, dass das Baby einen Schädelbruch und einen Bruch des Schienbeinkopfes erlitten hatte, Schnittwunden unter dem Fuß, Hämatome am ganzen Körper sowie Kratz- und Schürfwunden aufwies. „Der Angeklagte soll das Baby unter anderem mit einem Messer behandelt haben“, zitiert Richter Kay-Uwe Krüger, Sprecher des Neusser Amtsgerichtes, aus der Anklageschrift. Das Erkennen der Misshandlungen zeigt in diesem Fall, dass die Früherkennung des Netzwerkes das Kind nicht vor Gewalt schützen konnten.

Aber dafür wird unter anderem das Jugendamt sein Wohl künftig um so mehr im Blick haben — und auch das der Mutter. Die soll von dem 20-Jährigen ebenfalls misshandelt worden, aber auch erneut schwanger sein.