Zweiter Weltkrieg in Neuss Vor 75 Jahren waren nicht nur Lebensmittel Mangelware
Neuss · Die Zeit von 1945 bis zur Währungsreform war von Not und Hunger geprägt. Wer überleben wollte, brauchte Ideen.
. Die Familie satt bekommen – nach dem 2. März 1945 bis zur Währungsreform war das für die Neusser eine tagesfüllende Aufgabe. Stundenlang mussten sie vor Lebensmittelgeschäften anstehen – und gingen oft leer aus. Wer nicht Hunger leiden wollte, musste Alternativen suchen. „Meine Mutter war da sehr findig“, erinnert sich Dietmar Lemm. Natürlich wurde im eigenen Garten an der Anno-Straße fleißig Gemüse angebaut.
Doch sobald die ersten Züge wieder fuhren, reiste Lemms Mutter zudem regelmäßig zu Verwandten ins Sauerland und in die Eifel und brachte mit, was diese entbehren konnten – für den Eigenverzehr oder für den florierenden Tauschhandel. „Wir hatten zum Glück auch Verwandte und Bekannte, die bei Sels und in der Kappesfabrik gearbeitet haben und meiner Mutter Öl oder Sauerkraut zusteckten“, erzählt Lemm. Auch diese Waren wurden „gehandelt“ – und nicht zuletzt wurde eifrig „gesömert“. „Hinter unserem Haus lag freies Feld. Wenn die Bauern dort geerntet hatten, haben wir alles, was liegen geblieben war, eingesammelt“, erzählt der Ur-Neusser. Kartoffeln ebenso wie Rüben und einzelne Getreidekörner. „Die wurden dann zu Hause in der Kaffeemühle gemahlen“, berichtet Lemm.
Auch bei der Familie von Dieter Thören – Jahrgang 1942 – gehörte das Sömern zum Alltag. „Ich kann mich zwar nicht daran erinnern“, sagt der 77-Jährige, „aber ich habe immer erzählt bekommen, dass ich mittags hingelegt wurde und zwei bis drei Stunden schlief, während alle anderen Beeren pflückten oder sömern gingen“, erzählt er. Cousine und Cousin erzählten ihm auch, dass sie damals gezielt dicke Steine auf der Straße verteilten. „Wenn dann ein Fuhrwerk mit Weißkohl beladen zur Kappes-Fabrik Leuchtenberg fuhr, dann rumpelte es ordentlich und es fiel der ein oder andere Kohlkopf herunter.“
Doch trotz aller Findigkeit wurde es immer schwerer, genug Essen zu bekommen. „Teilweise habe ich nur eine Scheibe Brot am Tag gegessen“, erinnert sich Heinz-Günther Hüsch. Im März 1946 wurde die Bevölkerung aufgerufen, „jedes Stückchen Land zu bearbeiten und selbst den Stadtgarten umzugraben und mit Gemüse zu bepflanzen“, heißt es in der Dokumentation des Stadtarchivs.
Ein weiteres großes Problem: Der Wohnungsmangel. Ein Drittel der Neusser Wohnungen war nach dem Krieg nicht mehr bewohnbar. Hinzu kam, dass die Militärverwaltung Häuser beschlagnahmte und zudem Kriegsrückkehrer und Flüchtlinge die Einwohnerzahl sprunghaft anstiegen ließen. Selbst Küchen wurden nun zum Schlafraum. Dietmar Lemm ist das nicht bleibend in Erinnerung geblieben – im Gegensatz zu den vielen Umzügen der Familie. Denn mehrfach musste die Familie ihre Wohnung räumen, weil sie von der Militärverwaltung beschlagnahmt wurde oder die ursprünglichen Bewohner vor der Tür standen.
Dieses Schicksal blieb Dieter Thören erspart. Zusammen mit seiner Mutter und fünf weiteren Verwandten lebte er im Eigenheim am Selikumer Weg. Das bot nur wenig Platz für sieben Menschen, zumal es teilweise stark beschädigt war. „Vom Wohnzimmer konnten wir in den Himmel gucken, weil das Dach und die Zwischendecke kaputt waren“, erinnert er sich. Die Reparatur schritt nur langsam voran. Aus den Trümmern wurde alles gesammelt, was man irgendwie für den Bau gebrauchen konnte.
Was diese Zeit auch auszeichnete, so Ruth Hillmann, war die Freude an Kleinigkeiten. Sie beschreibt in den Dokumentationen des Archivs, wie sie sich über eine Apfelsinenschale freute, die sie aus dem Rhein gefischt hatte: „Reihum genossen wir den Duft.“ Etwas anderes war gleich mehreren Zeitzeugen eine Erwähnung wert: Endlich wieder durchschlafen können.