Sexueller Missbrauch Der Dauerschatten der katholischen Kirche
Düsseldorf · Die Bistümer Münster und Aachen werden von weiteren Missbrauchsfällen erschüttert. Der frühere Erzbischof Werner Thissen räumt in einem Interview schwere Fehler ein.
Für die Frau war es ein mutiger Schritt. Am vergangenen Samstag und Sonntag wurde mit ihrem Einverständnis in den Gottesdiensten der Pfarrei St. Marien in Kevelaer (Kreis Kleve) ein Brief verlesen, den sie dem leitenden Pfarrer dort geschrieben hatte. Darin berichtet sie davon, dass sie Mitte der 1980er-Jahre als Jugendliche von einem damals dort tätigen Kaplan über einen längeren Zeitraum sexuell missbraucht wurde. Der Missbrauch fand nach ihrer Darstellung im Rahmen der Beichte statt.
Dem Bistum Münster war der Fall seit 2010 bekannt. Damals aber hatte die Frau darauf bestanden, dass er nicht öffentlich wird und auch die Staatsanwaltschaft außen vor bleiben soll. Informiert wurde daher nur die Glaubenskongregation in Rom. Dem Kaplan wurden in einem Dekret nur Tätigkeiten in einem vom Bistum zugewiesenen Bereich erlaubt.
Zum Jahreswechsel 2016/2017 meldete sich die Frau dann wieder mit dem Hinweis, der Kaplan feiere trotz Zelebrationsverbots weiter öffentlich Gottesdienste. Der Münsteraner Bischof Felix Genn wies den Mann in der Folge schriftlich darauf hin, dass er nur ausnahmsweise und auch nur dann Gottesdienst feiern dürfe, „wenn nicht mit einer großen Öffentlichkeit zu rechnen sei“, wie das Bistum mitteilte.
Diese unklare Formulierung wird in Münster mittlerweile bedauert. Inzwischen ist dem Priester im Ruhestand vollständig untersagt, in der Öffentlichkeit Gottesdienste zu feiern. Auch wenn die Frau den Missbrauchsfall noch immer nicht zur Anzeige gebracht hat, prüft die Staatsanwaltschaft Kleve derzeit, ob sie von sich aus Ermittlungen aufnimmt.
Anklage gegen leitenden Pfarrer aus Mönchengladbach
Diese sind im jüngsten Missbrauchsverdacht innerhalb des Bistums Aachen schon abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft Aachen hat dem Bistum am Montag die Anklageschrift gegen einen heute 55-jährigen Priester übermittelt. Nach Informationen dieser Zeitung handelt es sich dabei um einen leitenden Pfarrer aus Mönchengladbach. Zum Tatzeitpunkt war er aber in einer Pfarrei im Kreis Düren tätig.
Der Fall sexuellen Missbrauchs, der dem Mann vorgeworfen wird, soll sich im Jahr 2003 ereignet haben. Opfer soll dabei ein damals zwölfjähriger Messdiener gewesen sein. Der Betroffene habe sich, so Staatsanwältin Golriez Litterscheid, im Herbst vergangenen Jahres an die Polizei gewandt. Da bei sexuellem Missbrauch von Kindern die Verjährungsfrist von zehn Jahren mittlerweile erst ab dem 30. Lebensjahr des Opfers beginnt und der Fall auch zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung nicht verjährt gewesen wäre, ist er weiterhin justiziabel, wenn das Amtsgericht Jülich über die Verfahrenseröffnung entschieden hat.
Klageschrift beim Amtsgericht Jülich noch nicht eingegangen
In Jülich war die Anklageschrift aber am Mittwoch noch gar nicht angekommen; sie liegt weiter bei der Staatsanwaltschaft Aachen. Offenbar war das Bistum mit seiner Pressemitteilung vorgeprescht. Normalerweise, so Gerichtsdirektor Norbert Hillmann, könne aber binnen drei Wochen nach Eingang der Klageschrift mit einer Entscheidung über die Zulässigkeit der Anklage gerechnet werden.
Das Bistum Aachen verweist auf die Unschuldsvermutung, die bis zum Abschluss des Gerichtsverfahrens gelte. Gleichzeitig wurde aber bestätigt, dass der Priester bereits auffällig geworden war. Es habe in den vergangenen Jahren mehrfach Hinweise gegeben „auf ein grenzwertiges Nähe-Distanz-Verhalten, das nicht auf sexualisierte Gewalt schließen ließ“. Die damaligen Personalverantwortlichen seien dem „mit Personalgesprächen und konkreten Verhaltensauflagen gemäß der Präventionsordnung begegnet“. Der 55-Jährige wurde laut Bistum in dieser Woche nach Zustellung der Anklageschrift sofort einbestellt und bis auf Weiteres von seinen priesterlichen Ämtern freigestellt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm sexuellen Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen vor. Die betroffene Gemeinschaft der Gemeinden in Mönchengladbach soll zeitnah über die Vorwürfe informiert werden.
Kritik an Mitleid mit den Tätern und mangelnder Distanz
Derweil hat der ehemalige Hamburger Erzbischof Werner Thissen schwere Fehler in seiner Zeit in Münster eingeräumt. „Diejenigen, die des Missbrauchs beschuldigt wurden, waren ja Priester, die wir gut kannten. Da kommt sehr schnell der Mitleidseffekt auf“, sagt der heute 80-Jährige in einem Interview mit der Münsteraner Bistumszeitung „Kirche und Leben“, das in der Ausgabe vom 10. November erscheint, aber vom Bistum vorab veröffentlicht wurde. Darin kritisiert Thissen auch die lange fehlende Distanz zu den Tätern: „In einer Personalkonferenz fragte mal jemand: ,Muss der Täter denn nicht bestraft werden?’ Die übereinstimmende Meinung war: Der hat sich doch durch sein Vergehen am meisten schon selbst bestraft.“
Vor seiner Einführung als Erzbischof von Hamburg 2003 hatte Thissen mehr als 20 Jahre Personalverantwortung im Bistum Münster getragen, erst als Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal, später von 1986 bis 1999 als Generalvikar und Stellvertreter des Bischofs. In seine Amtszeit fällt damit auch der aktuell bekannt gewordene Missbrauchsfall aus Kevelaer.
In dem Interview bezeichnet Thissen es als „großen Fehler“, dass er in seiner Zeit als Personalverantwortlicher „mit den Betroffenen kaum Kontakt“ gehabt habe. Dadurch habe es ihm an Vorstellung gemangelt, „was für ein Schaden bei einem jungen Menschen angerichtet wird durch Missbrauch“. Das sei ihm erst später durch viele Gespräche als Erzbischof von Hamburg bewusst geworden.
Deswegen sei es ihm heute ein großes Anliegen, „das zu tun, was man jetzt tun kann: die Betroffenen hören, die Missbrauchsverbrechen offen legen, weil es für die Betroffenen sehr heilsam ist zu spüren: Das ist nicht etwas, was wir jetzt auch noch verdrängen und geheim halten müssen, sondern etwas, worüber man sprechen kann. Wichtig finde ich auch, um Entschuldigung zu bitten.“
Münsters Bischof Genn sagte, er sei dankbar, dass der ehemalige Generalvikar sich zu Fehlern bekenne und Verantwortung übernehme. „Dass dabei, wie es Werner Thissen selbst sagt, die Betroffenen nicht im Blick waren, bleibt für uns heute unverständlich.“