Haßlinghausen nach dem Krieg: Soldaten füllten die Schultüte

Der dritte Teil schließt die Serie über den Pennekamp zur Zeit des Kriegsendes ab.

Haßlinghausen. Als der Krieg zu Ende ging, war mir klar, dass die Fremdarbeiter nun nach Hause durften, und ich freute mich. Es kam dann aber doch auch für mich unerwartete Weise.

Eines Tages hieß es: „Sie sind unten und fragen Katja!“ Ich spürte eine große Unruhe im Haus. Sie, das waren wohl die Amerikaner und noch nicht die Engländer. Ich war empört und verlangte von meiner Mutter, sie solle nach unten gehen und ihnen erklären, dass Katja nichts getan hätte, dass sie keinen Krieg gemacht hätte und dass sie sowieso überhaupt keine Deutsche war. Sie sollten sie in Ruhe lassen. Da klärte mich meine Mutter auf, dass es darum nicht ging. Vielmehr wollten sie von Katja wissen, wie es ihr hier im Haus gegangen sei, wer vielleicht böse zu ihr gewesen wäre oder sonst etwas Schlechtes getan hätte.

Das war für mich ein Schock. Ich machte mir keine Sorgen um unsere Familie oder die Hausbewohner. Trotz des einen unklaren Vorkommnisses glaubte ich, ihr sei nichts geschehen. Mein Schrecken war die Erkenntnis, dass etwas, was für mich zu meinem normalen Alltag gehörte, in einer anderen Sicht grundsätzlich unnormal und ungerecht war, etwas, für das man zur Rechenschaft gezogen würde. Ich war unsicher, ob meine Freundschaft überhaupt noch weiter gelten dürfte.

Das Haus blieb in großer Spannung. Erst am nächsten Tag erfuhren wir, dass Katja gut über uns gesprochen oder zumindest nichts Schlimmes ausgesagt hätte. Wir hörten auch, dass sie bald in ihre Heimat zurückkehren dürfte. Merkwürdigerweise spürte ich darüber nicht mehr die frühere Freude. Es war nur etwas, was noch zu geschehen hatte.

Meine Mutter ging im Haus herum und sammelte Geld zu Katjas Abschied. Ich glaube, sie selbst steuerte fünf Mark bei. Als es soweit war, wollte ich mich verdrücken, aber meine Mutter verlangte, dass ich da zu sein hätte. Man lässt nicht jemanden ohne Abschied gehen, der einen gern hat.

Der Abschied fiel dann von meiner Seite förmlich aus, ich gab ihr die Hand und sagte: „Auf Wiedersehen, Katja.“ Und das war es so ziemlich. Ich freute mich aber doch, dass sie mich noch einmal mit ihrer seltsamen Koseform meines Namens nannte wie früher. Und ich war beruhigt, dass sie nach einigem Sträuben das Geld annahm, „für die Reise“. Ich war überzeugt, dass sie es in Russland gar nicht gebrauchen konnte. Ich kannte ja die beiden Silberrubel von meinem Vater und hatte Angst, dass Katja beleidigt sein könnte. Vor allem aber war ich erleichtert, dass sie nicht auf ihr Versprechen zurückkam, mich nach dem Krieg in die Ukraine mitzunehmen.

Danach kamen andere Ereignisse, sodass ich kaum noch an Katja dachte. Die Engländer übernahmen uns von den Amerikanern, und ich hoffte, es könnte wieder Schokolade geben. Aber meine Mutter verbot mir die Wegelagerei noch einmal ausdrücklich. Außerdem seien die Engländer selbst arm.

Einmal aber durchbrach sie das Prinzip. Entweder hatten wir überhaupt nichts zu Essen im Haus, oder sie brauchte etwas Besonderes, vielleicht weil mein Bruder Hans Georg krank war. Jedenfalls schickte sie mich mit einem Zettel zu dem Armeebus, der weiter unten auf der Straßenbahnweiche parkte, und in dem die Amerikaner oder die Engländer inzwischen ihren Posten hatten. Sie gaben mir dann auch etwas, ich glaube, es war Weißbrot in einer Dose und Corned Beef.

Danach gab es zwei späte Nachklänge in meiner Nachkriegs-Schokolade-Biographie. Einmal war es ein Paket aus England. Dort war mein Onkel in Kriegsgefangenschaft. Als Bäcker und Konditor arbeitete er beim Bäcker des Dorfes, buk Brot nach deutschem Rezept. Zum Schluss wohnte er sogar im Haus und bewegte sich frei im Dorf. In seinem Paket waren Mehl, Zucker, Kaffee, Lavendelseife für meine Mutter, ein babyblauer und ein babyrosa Plastikkamm, Cadbury-Schokolade, Senior Service-Zigaretten und ein englisches Bilderbuch. Ich lernte, dass Gänseblümchen auf Englisch daisies heißen, und dass Daisy auch ein Mädchenname ist.

Das zweite Schokoladenerlebnis: Am Tag meiner Einschulung zu Ostern 1946 brachte meine Mutter mich zur Schule Hobeuken, und ich trug eine Schultüte. Kurz bevor wir zum Abzweig der kleinen Straße kamen, die hinauf zur Schule führt, hielt ein einzelner englischer LKW. Auf der rechten Seite öffnete der Fahrer seine Tür, fragte etwas, meine Mutter antwortete, er lachte, sagte etwas zu mir, und ich bekam Geschenke in meine Tüte gestopft: fünf, sechs verschiedene Dinge, überreichlich für meine Begriffe. Diesmal freute sich meine Mutter beinah noch mehr als ich.