Im Nachklang der Leipziger Buchmesse reisen Autoren, die man sonst wohl nicht treffen könnte, durch deutsche Städte. So war es auch mit der portugiesischen Schriftstellerin Lídia Jorge. Ihr jüngster Roman „Misericordia“ ist in ihrem Heimatland und in Übersetzung auch in Frankreich längst begeistert aufgenommen worden. Jetzt gibt es auch eine deutsche Übersetzung: „Erbarmen“.
Bei ihrem Besuch im Heine-Haus haderte die 79-jährige Autorin ein wenig mit der Aussprache des deutschen Titels. Aber auch mit diesem selbst. Denn, wie sie sich informiert habe, gebe es nur eine teilweise Bedeutungsgleichheit mit dem lateinischen Original. Sie habe dieses Buch im Auftrag ihrer Mutter geschrieben, erzählte Jorge. Dennoch sei es kein Buch über ihre Mutter, sondern eine Erzählung über eigenständige, intelligente Frauen, die am Ende ihres Lebens nicht mehr ohne Hilfe auskommen und in einem Seniorenheim leben. Im Anfangskapitel, das man auf Deutsch und im lautschönen Portugiesisch hören konnte, führt die Protagonistin Dona Alberti einen Kampf mit der Nacht. Mangels eigener Handlungsmöglichkeiten ist diese längst zu einem Phantasma geworden, einer bösen Gegnerin eigener Erinnerung. Die Nacht quält mit Fragen, die nicht zu beantworten sind. Jedoch wird der Alltag im Pflegeheim keineswegs als erbarmungswürdig beschrieben. Vielmehr liest man über Bemühungen und Nöte des Personals, über Momente der Heiterkeit unter Dona Albertis Mitbewohnern, eigenen Sorgen, Erinnerungen und deren Lücken. Aber auch über die schwierige Liebe zur Tochter, einer Schriftstellerin. Warum schreibt die nicht über berühmte Menschen und verdient Geld, anstatt vom Elend Namenloser zu erzählen? Dann wäre sie doch reich und berühmt. Ob es in dem Roman also letztlich um einen Generationskonflikt gehe, wollte der Verleger Christian Ruzicska von der Autorin wissen. Jorge, die am Ende einer Lesereise durch sechs deutsche Städte alle möglichen Fragen mehrfach gehört hatte, antwortete höflich, aber bestimmt. Ihr Buch, ob man es „Misericordia“ oder „Erbarmen“ nenne, sei eine Aufforderung zur Lebensbejahung. Es ginge darum was wirklich wichtig im Leben sei angesichts der Tatsache, dass wir alle dem Tod entgegengehen. Und dann erfuhr man bei dieser anregenden Begegnung, dass Lídia Jorges Ehemann – einem früheren Marineoffizier – gerade eine hohe Ehrung zuteilwurde. Er war es nämlich, der 25. April 1974 im Radio ein Lied spielen ließ, das für die portugiesischen Streitkräfte als Signal für die sogenannte Nelkenrevolution galt. Dieses Lied „Grândola, vila morena“ von José Afonso höre sie bis heute beinahe jeden Tag noch in ihrem Kopf, erzählte Lídia Jorge, während sie die Bücher signierte.