Schnell gezimmerter Deal? Wirbel um Kohleausstieg 2030 in NRW: „Grüne verschleiern ihr Regierungshandeln“

DÜSSELDORF · Unterlagen zur Einigung von Bundes- und Landesregierung mit RWE zeigen: Der Kohleausstieg 2030 war offenbar ein unter Wenigen schnell gezimmerter Deal. Die FDP übt scharfe Kritik.

Robert Habeck (M., Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Mona Neubaur, Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen, und Markus Krebber (r), Vorstandsvorsitzender von RWE, geben eine Pressekonferenz zur Verständigung auf einen beschleunigten Kohleausstieg 2030.

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Am 4. Oktober 2022 kündigte das Bundeswirtschaftsministerium einen Livestream beim Kurznachrichtendienst Twitter an: „Gemeinsames Pressestatement zum Thema Energieversorgung und Klimaschutz“, hieß es dort. Mit dabei: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, Mona Neubaur, Wirtschaftsministerin NRW, und Markus Krebber, Vorstandsvorsitzender der RWE AG. Es war der Tag, an dem die beiden Grünen-Politiker ein durchaus überraschendes Zeichen in die Republik sendeten: Mit RWE als einen der größten deutschen Energieversorger habe man sich geeinigt, den Braunkohleausstieg in Nordrhein-Westfalen vom Jahr 2038 auf 2030 vorzuziehen. „Klimaschutz bleibt eine der zentralen Herausforderungen“, sagte Krebber an jenem Tag mitten hinein in die beginnende Energiekrise, weil acht Monate zuvor der Großangriff Putins auf die Ukraine begonnen hatte und seither russisches Gas geächtet war. Krebber sagte weiter: „Wir brauchen einen früheren Kohleausstieg, nur so können die ehrgeizigen Klimaschutzziele erreicht werden.“

Eineinhalb Jahre später hat jetzt die FDP durch ihren Fraktionschef Henning Höne im NRW-Landtag mit Hilfe des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) die Dokumente zu diesem früheren Ausstiegsplan eingefordert. Anhand derer lässt sich gut nachzeichnen, dass die schnelle Entscheidung einiger Grünen-Politiker mit dem Unternehmenschef sehr bewusst an Kabinett, Parlament wie Öffentlichkeit vorbei getroffen worden ist – eben von einem nur kleinen Kreis, der aus Habeck, Neubaur, Habecks Staatssekretär Patrick Graichen, der später im Rahmen der sogenannten „Trauzeugen-Affäre“ von Habeck entlassen worden ist, und NRW-Umweltminister Oliver Krischer bestand. Auch Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und RWE waren demnach eingebunden. Zuerst hatte die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ darüber berichtet. Sie schreibt von einem „Hinterzimmer-Deal der Grünen“.

In der Tat stärkt das Vorgehen der Spitzenpolitiker den Eindruck, dass man jeden Widerstand frühzeitig und bewusst verhindern wollte, um das Vorhaben im Angesicht des anstehenden Grünen-Bundesdelegiertenkonferenz durchsetzen zu können. Der Druck nämlich war groß, dort mussten Zustimmungen für Laufzeitverlängerungen von Braunkohlekraftwerken und Atomkraftwerken eingeworben werden. Einen ähnlichen Vorwurf musste Habeck bereits hinnehmen, als das Magazin „Cicero“ vor einigen Wochen die Dokumente zur umstrittenen Abschaltung der verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland offenlegte, nachdem es sie eingeklagt hatte. Bedenken gegen die frühzeitige Abschaltung, so hieß es, seien von Habeck und der Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) schlicht ignoriert worden.

Das der FDP nun überlieferte Dokument der Landesregierung ist an vielen Stellen geschwärzt, vor allem in der Kommunikation zwischen dem Unternehmen RWE und der Landesregierung, auch der interne Austausch im Wirtschaftsressort ist nicht freigegeben. „Die Antwort der Landesregierung auf unsere Anfrage ist ein Hohn“, mokierte sich am Dienstag FDP-Fraktionschef Höne darüber gegenüber dieser Zeitung. „Die Grünen verschleiern ihr Regierungshandeln. Statt der versprochenen Transparenz erhalten wir nur unvollständige und geschwärzte Dokumente. Das zeigt, dass CDU und Grüne noch einige Leichen im Keller haben.“ Diese Geheimhaltung, so Höne weiter, sei untragbar. „Die Abgeordneten und die Bürgerinnen und Bürger haben ein Anrecht auf Transparenz über politische Entscheidungen. Das gilt umso mehr, wenn Entscheidungen viel Steuergeld kosten und die Versorgungssicherheit mit Energie riskieren.“ Laut Höne müsse sich „die Regierung Wüst“ erklären. Und: „Wir prüfen weitere Rechtsmittel!“ Eine Anfrage unserer Redaktion am späten Nachmittag zu den Dokumenten im Wirtschaftsministerium blieb gestern zunächst unbeantwortet, war aber noch in Arbeit.

Dass der Kreis der Verhandler und Wissenden bewusst klein gehalten werden soll, hatte Graichen erbeten. Er wollte offenbar Vertraulichkeit wahren. Bereits am 22. September war laut der Papiere davon die Rede, den frühzeitigeren Ausstieg aus dem Braunkohleabbau am 4. Oktober 2022 verkünden zu wollen. Eine Kabinettsbefassung der Landesregierung hatte es zu jenem Zeitpunkt nicht gegeben, obwohl Ministerpräsident Hendrik Wüst in die Ausstiegsentscheidung ausdrücklich involviert war: Neubaur hatte sich gemäß der Unterlagen mit dem Entwurf des Eckpunktepapiers mit MP Wüst „rückgekoppelt“. Eine Kabinettsbefassung, so berichtet es Neubaur an RWE-Chef Krebber, sei wegen der „vereinbarten Vertraulichkeit“ nicht möglich gewesen.

Der Vorwurf von Höne: Der Landtag sei bewusst nicht eingebunden worden, obwohl die Parlamentsinformationsvereinbarung vorsehe, dass bei landesbedeutsamen Entscheidungen der Landtag unverzüglich zu informieren sei. Und politisch lautet der Vortwurf wesentlich, dass das Vorziehen des Kohleausstiegs entschieden worden sei, ohne dass damals wie heute die dafür notwendigen energiewirtschaftlichen Voraussetzungen vorlagen. Dass die Ersatzkapazitäten über noch zu bauende Gaskraftwerke rechtzeitig aufgebaut werden können für den Fall, dass die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, hatte sogar zuletzt Ministerpräsident Hendrik Wüst öffentlich bezweifelt.

RWE hat von dem Deal derweil durchaus profitiert: Das Unternehmen musste zwar Kohle liegen lassen, durfte aber zwei abgeschriebene Meiler in Neurath länger betreiben, Lützerath abbaggern, erhält jetzt Subventionen für den Bau von Gaskraftwerken und spart Emissionszertifikate ab 2030. Die müssten in der Folge teuer aus Steuermitteln bezahlt werden, wenn der Ausstieg denn tatsächlich verschoben werden sollte.