11. September: Eine Wuppertaler Augenzeugin erinnert sich

Kerstin Spitzl war am 11. September 2011 in New York. In der WZ erinnert sie sich an den Tag, der die Welt veränderte.

Wuppertal/New York. Er ist einer dieser Tage, von dem jeder noch Jahre später weiß, was er gerade tat und fühlte, als er die Neuigkeiten hörte: der 11. September 2001. Für die meisten wird er vor Fernseher, Radio oder Internet abgelaufen sein. Zu fesselnd waren die sich überschlagenden Ereignisse, schier unfassbar die Bilder und Reportagen aus New York, die immer wieder von den zwei ins World Trade Center geflogenen Flugzeugen berichteten, die für tausende Tote sorgten und ein Symbol der westlichen Weltordnung zum Einsturz brachten.

Das geht auch Kerstin Spitzl so. Auch vor dem geistigen Auge der Wuppertalerin laufen die Bilder des größten Anschlags der Geschichte detailliert ab, wenn sie an den Tag denkt, der sich morgen zum zehnten Mal jährt. Doch es sind nicht die gefilterten Bilder der Kameras, sondern ihre ganz eigenen. Denn Kerstin Spitzl erlebte den Anschlag als Augenzeugin — in nächster Nähe zum World Trade Center. Nun sprach sie zum ersten Mal über ihre Erlebnisse.

Eigentlich fängt es ganz harmlos an. Der 11. September 2001 ist ein herrlicher Spätsommer-Morgen in New York, wo Kerstin Spitzl seit drei Monaten lebt. Gerade noch hat sie eine Freundin, die bei ihr übernachtet hat, verabschiedet, als diese plötzlich aufgeregt anruft und von einem Flugzeug erzählt, das in die Zwillingstürme geflogen sei. „Ich dachte zu erst an ein Unglück“, sagt sie heute, die sofort auf die Straße rennt, um sich das vermeintliche Unglück persönlich anzusehen.

Kaum unten angekommen, sieht sie das zweite Flugzeug in das Handelszentrum fliegen. Und was eben noch wie ein technischer Fehler aussah, wirft auf einmal Fragen auf: „Was ist da los? Habe ich die Nachrichten verpasst? Sind wir im Krieg? Und sind das wirklich Menschen, die da aus den Fenstern springen?“ Nichts habe sie mehr in diesem Moment einordnen können.

Zehn Jahre danach sind diese Erinnerungen wieder präsent. Kerstin Spitzl erzählt, wie ihr Menschen voller Asche und mit leeren Blicken entgegenkommen. Doch von Panik oder Aufruhr sei zunächst nichts zu merken. Im Gegenteil: „Es war gespenstisch ruhig auf der Straße. Eine richtige Spannung lag über der Stadt.“ Und über allem steht die Angst: „War es das schon? Kommen noch mehr Flugzeuge? Gibt es sogar einen Giftgasangriff?“

Trotz der Emotionen, die in ihr hochkommen, erzählt Kerstin Spitzl besonnen und ruhig. Immer wieder macht die heute 42-Jährige Pausen, guckt ins Leere und überlegt lange für die nächste Episode ihrer Geschichte.

Noch während sie auf der Vestry Street steht, stürzen die Türme ein. Kerstin Spitzl, deren Wohnung in der Sperrzone liegt, entscheidet sich, für einige Nächte zu einem Freund in die 86. Straße zu ziehen.

Am nächsten Tag hält sie es nicht mehr aus. Sie will helfen, meldet sich beim Roten Kreuz und beginnt direkt am Unglücksort mitzuarbeiten. Zehn Tage bleibt sie noch in New York, bevor es für einige Wochen nach Europa geht. Zehn Tage voller persönlicher Angst und Ungewissheit auf der einen Seite, gelebter Solidarität und Hilfsbereitschaft auf der anderen.

Auch in Europa sind die Gedanken nicht weg. „Wann immer ich Blaulicht sah, hatte ich Schweißausbrüche. Wenn ich später wieder in New York in der U-Bahn saß und diese plötzlich stehen blieb, bekam ich Angst.“ Jahrelang geht das so.

Erst Aikido — die defensiv und spirituell ausgerichtete Kampfkunst aus Japan — hilft ihr, mit der Angst umzugehen. „Ich war charakterlich nicht auf so ein Ereignis vorbereitet. Auch Mut ist ein Muskel, den man trainieren muss“, sagt Kerstin Spitzl mit Nachdruck. Im Aikido findet sie ihren Weg, mit ihren Emotionen umzugehen. Sie zieht ins amerikanische Aikido-Zentrum, trainiert mehrere Stunden täglich. Eine „Lebenseinstellung“ nennt sie ihren Sport mit funkelnden Augen. Er nimmt ihr nicht nur die Angst, sondern hat auch Auswirkungen auf ihr Konsum- und Freizeitverhalten. Hin zu Biokost und nachhaltigen Produkten, weg von Fernseher und belanglosem Smalltalk. „Man muss Ursachen und Wirkung erkennen, hinter die Verpackung oder Fassade gucken“, sagt sie und nickt.

Die große Weltpolitik ist trotzdem nicht mehr ihre. „Ich verfolge nicht jeden Tag, was in der Welt passiert. Meine Form der Politik ist eher eine persönliche.“ So war auch die Nachricht vom Tod Osama bin Ladens kein besonders emotionales Ereignis für sie: „Der hat doch nur eine Rolle gespielt. Damit ist das Grundproblem doch nicht gelöst. Das Problem sind wir alle.“