Auswegloses Spiel der Erinnerungen
Gelungene Premiere einer entstaubten „Die Glasmenagerie“ von Tennessee Williams im Theater am Engelsgarten.
Das Theaterstück spielt mit Erinnerungen. Erinnerungen, die Zuflucht sind, die belasten, die fortlaufend durchlebt werden müssen oder aus dem Vergessen auftauchen. Die vier Protagonisten von „Die Glasmenagerie“ schleppen „einen ganzen Überseecontainer von Erinnerungen mit sich herum“, kündigt das Programmheft an. Der Satz wird bei der Premiere der Wuppertaler Inszenierung von Tennessee Williams’ Klassiker aus dem Jahr 1944 im Theater am Engelsgarten am Samstag vielfach lebendig. Taufrisch, bedrückend und in den Bann schlagend. Ein Abend, der mit Erinnerungen spielt — den fremden und den eigenen.
Anne Manns hat einen blauen, nur anfangs geschlossenen Container auf die Bühne gestellt; 12 Meter mal 2,3 mal 2,3 Meter — Standardmaß, Transportbehälter der globalisierten Welt für Sachen wie Menschen. An diesem Abend sich drehender, aufklappender, schließender, entleerender (genialer) Schauplatz für das trostlose, mit Utensilien wie ein Umzugswagen voll gestopfte, Heim und Leben der Familie Wingfield: Mutter Amanda, die ihren Frust über den sozialen Niedergang und den Mann, der die Familie verließ, durch hohe Erwartungen an die erwachsenen Kinder kompensiert; Tochter Laura, die in die Traumwelt ihrer Glasfiguren abtaucht, die sie in einem blauen Miniaturcontainer aufbewahrt; Sohn Tom, der sich in die Scheinwelt des Kinos flüchtet; Arbeitskollege Jim als überforderter Heilsbringer. Doch die Probleme der Familie bleiben ungelöst. Ein Entkommen gibt es nicht.
Das Drama verhalf seinem Autoren Williams zum Durchbruch, die Wuppertaler um Regisseur Martin Kindervater befreien es von seinen zeitgebundenen und dem heutigen Interesse hinderlichen Interpretationsbeschränkungen. Verstärken durch US-Film und -musik-Reminiszenzen das Spiel mit Erinnerung und Wahrheit und geben den einzelnen Figuren Kontur — setzen dabei aber cineastische Kenntnisse voraus.
Tom, Alter Ego von Williams und damit Erzähler des Stücks, eröffnet den Abend, tänzelt als Batman auf dem Container umher, ein unsicherer Weltenretter. Wird von seiner Muter jäh unterbrochen und in einen der verzweifelten Streitdialoge verwickelt, die zwischen den beiden immer wieder aufbrechen. Weil die Mutter den Sohn kontrollieren will und erwartet, dass er den Versorger-Ehemann für seine Schwester (und sich selbst) liefert. Toms Auftritte als Held der Leinwand in „Batman“, „Braveheart“, „Brokeback Mountain“ oder „Fear and Loathing in Las Vegas“ unterhält den Zuschauer, ist tragikomische Vorstufe einer Flucht aus der Scheinwelt der Familie, ohne dass er sie wirklich los wird. Konstantin Rickert spielt Tom einfühlsam, überschäumend, überzeugend.
Für die schrillen und unsympathischen Momente ist Julia Wolff zuständig, die in die Rolle der frustriert-dominanten Mutter schlüpft. Ihr Auftritt als Scarlett O’Hara in „Vom Winde verweht“ ist überdrehter wie köstlicher Höhepunkt. Ihre heile Welt der Vergangenheit ist brüchig, das Kartenhaus fällt zusammen. Auch Amanda hat ihren Moment der Wahrheit.
Ganz anders die zarte Laura, die Lena Vogt eindringlich verkörpert. Eine junge Frau, die im gelben Anzug der Rachegöttin aus „Kill Bill“ Stärke vortäuscht, aber wirklich stark ist, wenn sie mit klarer Stimme Nancy Sinatras „Bang, bang. My Baby shot me down“ singt, während sich ihre Glasfiguren auf der Langspielplatte drehen. Die in der Lage ist, ihren Schatz an den Menschen zu verschenken, der ihr Glaseinhorn zertrümmert und sie verschmäht. Schlussstrich unter ein Leben, das sich der Realität verweigert.
Auch Alexander Peiler, der als Jim die Familie zwingt, der Wahrheit ins Auge zu schauen, überzeugt. Sein kurzer Auftritt als Besatzungsmitglied des Raumschiffs Enterprise („Star Treck“) offenbart ein junges Leben, das zwar den Normen zu entsprechen scheint, dessen Weg in die Zukunft aber nichtoptimistisch stimmt.
Das Publikum zollt wunderbaren, unterhaltsamen wie anfassenden zwei Stunden großen Applaus.