Wuppertal Das Drama der Opfer im Scheinwerferlicht
Das Stück „Schmerzliche Heimat“ erzählt die Geschichte von Semiya Simsek. Sie ist die Tochter des ersten Opfers des NSU.
Wuppertal. Die Schüsse dröhnen, bevor das Licht auf der Bühne angeht — man begreift, hier geschieht etwas Erschütterndes, Unwiderrufliches, Unfassbares. Das Westfälische Landestheater Castrop-Rauxel erzählt in seinem Stück „Schmerzliche Heimat“ von den Simseks aus Nürnberg — der Blumengroßhändler Enver Simsek war am 9. September 2000 das erste Opfer der Terrorzelle NSU. Zwei Männer feuerten an diesem Samstagmittag neun Schüsse auf ihn ab.
Ein Mädchen spricht auf der Bühne über den Vater in seinem Blut, über Streifschuss, Durchschuss, Kopfschuss. Es ist Semiya Simsek, die damals 14-jährige Tochter des Opfers. Das Buch „Schmerzliche Heimat“ hat Christian Scholze in Kooperation mit dem Theater Hof für die Bühne adaptiert. Darin hat Semiya Simsek die Erinnerungen an das Leben ihres Vaters und an die schrecklichen Jahre nach seinem Tod mit einem Journalisten aufgeschrieben.
Es ist die Geschichte eines türkischen Mannes, der sich mit unermüdlichem Fleiß in Deutschland nach oben gearbeitet hat. Er wurde nicht nur Opfer einer rechtsextremen Vereinigung, sondern auch Opfer deutscher Behörden. Dass sich die Täter noch die Zeit nahmen, den Sterbenden zu fotografieren, erfuhr man erst 2011, als der NSU aufflog. Dazwischen liegen elf Jahre, in denen Enver Simsek noch mindestens einen weiteren Tod starb — durch Rufmord. Jahre, die geprägt waren von Verdächtigungen und Beschuldigungen: War der Vater ein Drogenkurier? Hatte er eine Geliebte gehabt? Hatte ihn die Mutter umgebracht? Denn die Ermittlungsbehörden versuchten ebenso wie bei den anderen neun Opfern jahrelang zu beweisen, dass entweder die Familie in den Mord verwickelt war oder der Tote dubiosen Handel betrieben hatte — Stichwort „Dönermorde“.
An Täter aus der rechtsextremen Szene wurde nie ein Gedanke verschwendet, das mochte der Verfassungsschutz auch wegen seiner Undercover-Agenten nicht so gern.
Christian Scholze inszeniert auf einer kargen Bühne und mit nur drei Personen - Neven Nöthig spielt sowohl Enver Simsek und dessen Schwager als auch den Polizisten, Verfolgten und Verfolger zugleich. „Schmerzliche Heimat“ geht ans Herz, lässt erahnen, was diese Familie mitgemacht hat, wie ihr selbst die Trauer um den toten Vater genommen wurde, wie sie nicht Opfer sein durfte, weil sie Täter sein sollte. Doch über das Gefühlige hinaus hält uns das Stück auch einen Spiegel vor mit den gängigen Denkstrukturen in diesem Land — das muss auch mal sein.
Scholzes Ziel ist es, den Opfern Raum zu geben. „Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Medien ist ganz auf Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten konzentriert. Bei den Namen Mundlos, Böhnhardt, Zschäpe hat jeder ein Bild vor Augen“, sagt er. „Aber zu den Simseks hat man kein Bild. Das finde ich furchtbar.“ Damit dieses besondere und wichtige Stück an möglichst vielen Theatern gezeigt werden kann, hat sich der Wuppertaler Andreas Bialas, kulturpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, für die Förderung von Gastspielen eingesetzt. Insgesamt 100 000 Euro aus dem Landeshaushalt machen es möglich, dass „Schmerzliche Heimat“ von Bocholt bis Radevormwald, von Solingen bis Kleve tourt. Da haben auch die Wuppertaler Bühnen gern zugegriffen. „Weil das Stück inhaltlich so wichtig ist“, sagt Geschäftsführer Enno Schaarwächter. „Seit Jahren ist dies das Thema Nummer eins in der Republik. Außerdem passt das Stück hervorragend in unsere Theaterpädagogik.“
Semiya Simsek ist auch am Ende noch ratlos: „Meine Heimat ist Deutschland. Wie soll das gehen?“ Im realen Leben möchte die Pädagogin, die 2012 in die Türkei gezogen ist, die Hoffnung noch nicht aufgeben. Bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer der NSU-Morde im Februar 2012 im Berliner Konzerthaus sagte sie in ihrer viel beachteten Rede: „Wir alle, gemeinsam — nur das kann eine Lösung sein.“