Stadtjubiläum Das „Prontosil-Wunder“ von Wuppertal

Die Entwicklung des Nobelpreisträgers Gerhard Domagk rettete viele Leben.

Bayer holte Gerhard Domagk nach Wuppertal und stellte ihm ein Labor zur Verfügung.

Foto: dpa/Oliver Berg

Noch in den 1920er Jahren starben in Deutschland jährlich 2000 bis 3000 Mütter an Kindbettfieber, hervorgerufen durch eine bakterielle Infektion. Viele Wissenschaftler waren damals überzeugt, dass wirksame antibakterielle Medikamente nie entdeckt werden würden. Die Firma Bayer hat aber weitsichtig Gerhard Domagk nach Wuppertal berufen und ihm ein Labor zur Verfügung gestellt, um antibakteriell wirksame Substanzen zu entwickeln.

Die Bakteriengruppe der Streptokokken, die Ziel von Domagks Forschung wurde, ist unter anderem für Scharlach, rheumatisches Fieber, Herzklappenentzündungen und eine Erysipel genannte Hautinfektion verantwortlich. Mit einem Streptokokkenstamm, der von einem tödlich verlaufenen Fall eines an einer Sepsis erkrankten Menschen stammte, hat Domagk Tausende von Mäusen infiziert, die daraufhin fast alle an einer Sepsis gestorben sind.

Domagk konzentrierte seine Forschung nach antibiotisch wirksamen Verbindungen auf Farbstoffe, insbesondere Azofarbstoffe. 300 solcher Substanzen standen zur Prüfung, darunter ein roter Farbstoff, der nach dem Chemiker Josef Klarer als KL 730 benannt war und der wegen seiner Farbe später als Prontosil rubrum bezeichnet wurde.

1931 hat Domagk beobachtet, dass die infizierten Tiere, die diese Substanz erhalten hatten, überlebt haben, während alle Kontrolltiere gestorben waren. Noch vor einer ersten Anwendung am Menschen konnte festgestellt werden, dass die Substanz auch bei Bakterien wie Pneumokokken und Staphylokokken wirksam war. Die oral aufgenommene Substanz ging schnell ins Blut über, wie man am rotgefärbten Harn und einer Rotfärbung der Haut erkennen konnte. Leider war das ursprüngliche Prontosil aber kaum wasserlöslich, so dass es nicht intravenös injiziert werden konnte. Ein Chemiker bei Bayer, Fritz Mietzsch, hat KL 730 aber so verändern können, dass es sich in Wasser lösen ließ und für Experimente am Menschen anwendbar war.

Beim Streptokokkus kann aus einer harmlosen Wunde schnell eine lebensgefährliche Infektion entstehen. Im Jahre 1933 wurde ein 18-jähriges Mädchen namens Heidi in der Elberfelder Klinik von Philipp Klee aufgenommen, das an einer von den Mandeln ausgehenden Infektion litt. Innerhalb eines Tages stieg ihre Körpertemperatur auf 40 Grad an, und im Gewebe machte sich ein großer Abszess breit. Nach einer kurzfristigen Besserung wurde Heidi einige Tage später wieder schwerkrank, bekam Schüttelfröste und Nierenversagen. Klee wusste, dass dieses Mädchen sterben würde, und da in dieser Situation nichts zu verlieren war, verabreichte er Prontosil intravenös. Innerhalb von 24 Stunden ging die Temperatur zurück, und die Nieren begannen wieder zu arbeiten. Nach vier Wochen konnte das Mädchen geheilt entlassen werden. Für die Ärzte der damaligen Zeit musste eine solche Heilung wie ein Wunder wirken. Es handelte sich um den weltweit ersten Fall der Heilung einer systemischen bakteriellen Infektion mit einem Antibiotikum.

Klee begann die Substanz an Patienten mit unterschiedlichen Infektionen zu testen. Viele Erkrankungen, für die bis dahin keine Heilung denkbar war, ließen sich mit Prontosil behandeln, unter anderem eine akute Tonsillitis, Abszesse oder septische Aborte. Bald stellte sich heraus, dass mit Prontosil erstmals eine Behandlung des akuten rheumatischen Fiebers möglich war, und Scharlach-Epidemien sollten ihren drohenden Charakter verlieren. Auch Herzklappenentzündungen ließen sich mit Prontosil behandeln.

Zu Ehren von Philipp Klee und seinen Pionierleistungen auf dem Gebiet der klinischen Pharmakologie wurde später das Wuppertaler Institut für klinische Pharmakologie nach ihm benannt, ebenso ein Preis für eine klinisch-pharmakologische Forschungsarbeit.

Im November 1935 rutschte die sechsjährige Tochter Domagks, Hildegard, im Spiel das Treppengeländer herunter und verletzte sich durch einen Splitter. Die Wunde infizierte sich mit dem Streptokokkus, und Blutvergiftungszeichen zeigten sich am Arm. Die übliche Therapie in der damaligen Zeit bestand in chirurgischer Wundöffnung. Obwohl das Kind 14 solcher Operationen über sich ergehen lassen musste, stieg die Temperatur deutlich an und der behandelnde Chirurg empfahl die Amputation des Armes. Domagk widersprach, gab Prontosil und innerhalb von zwei Tagen hatte sich die Temperatur normalisiert, das Kind konnte ohne Amputation geheilt werden.

Amerika wurde neugierig auf Domagk und „seine Chemikalie“

Auch das Kindbettfieber gehörte zu den gefürchteten Streptokokken-Infektionen. Durch die Mitte des 19. Jahrhunderts von Semmelweis eingeführte Desinfektion erkrankten zwar weniger Frauen, aber für eine trotzdem infizierte junge Mutter waren auch 1936 die Heilungschancen nicht besser als 100 Jahre zuvor. Mit zunächst wenig Enthusiasmus hat der Londoner Gynäkologe Leonard Colebrook 1936 die ersten Versuche mit Prontosil unternommen. Von den 38 Patientinnen seiner ersten Serie starben nur drei.

Schon einige Zeit vor der Entdeckung der Prontosil-Wirkung hatte Alexander Fleming die antibakterielle Wirkung des aus Schimmelpilzen gewonnenen Penicillin entdeckt, aber es herrschte Zurückhaltung bezüglich der Weiterentwicklung oder Vermarktung. 1936 erlitt ein Mitarbeiter Flemings nach einer Fingerverletzung eine Blutvergiftung. Ähnlich wie bei Domagks Tochter entwickelte sich ein schweres Krankheitsbild. Colebrook, der ja beim Kindbettfieber so gute Erfahrungen gemacht hatte, gab ihm Prontosil. Nachdem der Patient gesund wurde, war Fleming sehr beeindruckt, und diese Erlebnisse führten zu einer Revitalisierung der Bemühungen um Penicillin.

Auch in Amerika hatte sich ein dramatischer Wandel ereignet. Der Sohn von Franklin D. Roosevelt hatte im Dezember 1936 eine Streptokokken-Infektion erlitten, aus der sich eine Blutvergiftung entwickelt hatte. Seine Mutter und seine Verlobte saßen am Bett des Sterbenden, bis die Entscheidung zum Einsatz von Prontosil fiel. Nach einer schnellen Gesundung des jungen Roosevelt schrieb die New York Times: „Obwohl die Ärzte nicht gerade enthusiastisch wirkten, hat dies doch dazu geführt, dass die neugierigen Ärzte zur Bibliothek liefen und sich über Domagk und seine Chemikalie informierten“.

Domagk wurde für die Entdeckung des Prontosils international gefeiert und zu Kongressvorträgen in der ganzen Welt aufgefordert. Im Oktober 1939 wurde Domagk in der Nacht von einem Telefonanruf geweckt, und ihm wurde mit knappen Worten mitgeteilt, dass er den Nobelpreis für Medizin erhalten solle.

Man würde annehmen, dass ganz Deutschland stolz auf diese Auszeichnung war, aber die Nazis, denen die humanitäre und pazifistische Grundhaltung von Domagk missfiel, verbreiteten Gerüchte, dass die Ergebnisse auf Quacksalberei beruhten. Die Nazis hatten beschlossen, dass nie wieder ein deutscher Bürger den Nobelpreis entgegennehmen dürfe, weil 1935 der Pazifist Karl von Ossietzky den Nobelpreis für Frieden erhalten hatte.

Im Wissen um dieses Risiko hat sich das Nobelpreiskomitee trotzdem einstimmig für Domagk entschieden, zunächst ohne die Öffentlichkeit zu informieren. Lange ließ sich der Vorgang nicht geheim halten, insbesondere weil Bayer von amerikanischen Kooperationspartnern Gratulationen erhielt. Dies führte dazu, dass am 17. November die Gestapo bei Domagk auftauchte, sein Haus durchsuchte und ihn gefangen nahm.

Nach seiner Entlassung fühlte er sich außerordentlich unwohl und begab sich zu Klee zu einem medizinischen Check up, wobei keine körperlichen Probleme festgestellt wurden. Domagk verfiel in Depressionen. Besonders belastete ihn, dass seine wissenschaftlichen Entdeckungen so wenig Eingang in die Praxis gefunden hatten. Er schrieb einen Brief an den Generalarzt der Armee, um ihm Prontosil und eine Weiterentwicklung der Substanz, Marfanil, zu empfehlen, das sogar bei Gasbrand wirksam war. Die Armeeärzte haben ihn und seine Entdeckungen weitgehend ignoriert. Erst 1942 begann die Armee, sich für die neuen Substanzen zu interessieren und im größeren Umfang in den Lazaretten einzusetzen.

1947 konnte der schwedische König schließlich den acht Jahre zuvor zuerkannten Nobelpreis für Medizin aushändigen. 1964 ist Domagk im Alter von 69 Jahren verstorben. Er wurde 1951 zum Ehrenbürger der Stadt Wuppertal ernannt.