90 Jahre Wuppertal Die Freiheit der Kunst
Wuppertal · Der 24. September 1966 war ein denkwürdiger Tag für Wuppertal und für die deutsche Kulturlandschaft. An diesem Tag geschah mehr als die Eröffnung des Schauspielhauses. Dank Heinrich Böll.
Der Auftakt war ein Donnerschlag. Die Rede des späteren Literatur-Nobelpreisträgers Heinrich Böll wurde nicht nur im Wuppertaler Schauspielhaus vernommen. Der Schriftsteller sprach am 24. September 1966 zur Eröffnung des Gotthard-Graubner-Baus über die Freiheit der Kunst. Er tat dies im Umfeld eines Staates, der gerade dabei war, den jüngeren Teil seiner Bevölkerung zu verlieren. Die Jugend begehrte auf gegen eine verkrustete Gesellschaft, die ältere Generation hielt mit Traditionen und Regeln dagegen. Der Staat zeigte Macht und war doch machtlos.
Das war Deutschland im Jahre 1966. Das war der Boden, auf dem Heinrich Böll seine heute noch bemerkenswerte Rede hielt. „Die Kunst muss zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf“, sagte er und bewarb sie als Korrektiv der Gesellschaft, als Widerpart der Staatsmacht. Es war eine große Rede und Bundespräsident Heinrich Lübke ihr prominentester Zuhörer im Schauspielhaus.
Das Haus hat viele Sternstunden erlebt. Premieren und Galas, große Schauspiele, große Schauspieler, Dramen, Komödien und immer wieder das Pina Bausch Ensemble. Es war, als es am 24. September 1966 eröffnet wurde, ein Signal der Kunst an die Gesellschaft. Deshalb war es auch kein Zufall, dass Heinrich Böll und Bundespräsident Heinrich Lübke zur Eröffnung kamen. Dass Bölls Rede größere Spuren hinterlassen hat als die Grußworte des Bundespräsidenten, gibt Auskunft über die Zeit, in der Gerhard Graubner sein heute unter Denkmalschutz stehendes Haus für Wuppertal errichtete.
Die 1960er Jahre waren in ihre zweite Hälfte getreten, überall auf der Welt roch es nach Rebellion, nach Aufbruch, nach der Sehnsucht, die Ketten zu sprengen, die Nationalismus und Militarismus um den alten Kontinent gelegt hatten. Die Jugend der Welt begann aufzubegehren. Während Wuppertal die Eröffnung seines Schauspielhauses feierte, starben in Brasilien zwei Studenten bei Protesten gegen das Militärregime. 1000 Demonstranten wurden verletzt. Auch in Deutschland wurde die Jugend lauter. Die Bühnen der Republik dienten dazu ebenso als Ventil wie die Hochschulen.
Wuppertal war damals kulturell eine noch bedeutendere Stadt als heute. Es galt als ein Zentrum Westdeutschlands für bildende Künste. Galerien unterhielten weltweit Kontakte und waren Treffpunkte für Intellektuelle aus aller Herren Länder.
Das Schauspielhaus
kostete elf Millionen D-Mark
Heinrich Bölls Aufforderung, der Kunst ihre gleichsam naturgegebene Freiheit zu lassen, passte deshalb zum 24. September 1966. Sie passte zur Eröffnung des Schauspielhauses und sie passte nach Wuppertal. Vielleicht hat der große Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger in weiser Voraussicht geahnt, wie sehr die Regeln der Marktwirtschaft die Kultur in ihrer Freiheit dereinst einschränken würden. Das Schauspielhaus hat Wuppertal sich seinerzeit etwa elf Millionen D-Mark kosten lassen. Geschlossen wurde es 2013 letztlich deshalb, weil 6,5 Millionen Euro für seine Sanierung zu viel gewesen sind.
Wuppertal ist einmal eine reiche Stadt gewesen. Textilveredelung, Textilmaschinenbau, Chemie, Haushaltsgeräte von Weltruf, bergische Tüftler, die nach dem 2. Weltkrieg halfen, das Auto aus deutschen Landen zur Siegesfahrt um die Welt zu starten. In so eine Stadt gehört ein umfassendes Kulturangebot. Deshalb wurde das im Krieg zerstörte Barmer Opernhaus wieder aufgebaut. Und der Beschluss zum Bau des Schauspielhauses sollte die Übergangszeit des Ensembles in der Historischen Stadthalle beenden. Der Auftakt mit Nathan der Weise und Else Lasker-Schülers „Die Wupper“ war glanzvoll und fand in den Feuilletons deutschlandweit ein Echo, nicht nur wegen der beeindruckenden Rede Bölls, sondern auch wegen des Signals, das Wuppertal in diesen 1960er Jahren setzte.
Es ist Zufall, dass in Solingen vor nun beinahe 80 Jahren eine Frau geboren wurde, die das Ballett zum Tanztheater machen und es damit revolutionieren sollte. Es ist kein Zufall, dass diese Revolution in Wuppertal stattfand. Das Bergische Land war irgendwie immer schon eine Region von Menschen, die eigensinnig sind, die neue Wege beschreiten und dabei stur ihr Ziel verfolgen. Arno Wüstenhöfer war Intendant in Wuppertal, als Pina Bausch eine Heimat für ihre Tanztheater-Visionen suchte. Wüstenhöfer gab ihr den Raum, entgegen aller Widerstände. Die Buhrufe und zugeschlagenen Türen des Schauspielhauses in der Frühphase des Pina-Bausch-Ensembles sind heute Legende und hallen vermutlich sich selbst verhöhnend noch heute durch den leeren, seit Jahren unbespielten Saal an der Kluse. Vielleicht ärgern sich manche von jenen, die damals buhten, heute darüber, dass sie für Aufführungen des Tanztheaters keine Karte bekommen können. Die Nachfrage ist ungebrochen.
Es ist eine Fügung des Schicksals, dass ausgerechnet die zunächst ausgebuhte, dann weltweit gefeierte Choreographin postum Retterin des Schauspielhauses werden könnte. Seit Jahr und Tag geistert der Plan durch die Republik, aus dem Graubner-Bau das internationale Tanzzentrum Wuppertal zu machen. Die Umbaukosten von knapp 60 Millionen Euro liegen bereit, zur Hälfte vom Bund, der Rest vom Land NRW und der Stadt Wuppertal aufgebracht. Dass noch kein Maurer das Gebäude betreten hat, liegt allein an der Tatsache, dass die Betriebskosten des „Wupperbogen“ genannten Tanz- und Begegnungszentrums noch nicht gedeckt sind.
Diplomatische Bemühungen haben noch nicht gefruchtet.
Von insgesamt 14 Millionen Euro pro Jahr ist die Rede, die Bund, Land und Stadt sich bestenfalls teilen sollen. Doch das Kultusministerium ziert sich. Alle gemeinsamen diplomatischen Bemühungen von Stadt und Land haben noch nicht gefruchtet. Auch die Einzeldiplomatie des Oberbürgermeisters Andreas Mucke (SPD) hat sich bisher als nicht erfolgreich erwiesen.
Geldmangel, Unentschlossenheit, diplomatische Vielstimmigkeit sind der Stahl, aus dem das Damoklesschwert geschmiedet wurde, das über dem Wuppertaler Schauspielhaus an der Kluse schwebt. Es hängt an einem seidenen Faden, der mit jedem Tag dünner wird. Baufachleute rechnen mit Kostensteigerungen von 100 000 Euro pro Monat. Jedes Jahr, in dem nichts getan wird, schmälert den Gegenwert der bereitgestellten Sanierungssumme um 1,2 Millionen Euro.
Allzu lange kann Wuppertal mithin nicht mehr auf die Zusage des Kultusministeriums warten. Es ist möglich, dass das Geld fürs Bauen nicht mehr reicht, wenn sich in Berlin doch noch die entscheidenden Menschen besinnen, das in Wuppertal geborene Tanztheater als das anzuerkennen, was es ist: ein deutsches Kulturerbe, das Weltformat hat.