Was denken Sie denn? Was ist schon normal...

Pastoralreferent Werner Kleine über die größte Herausforderung, denen sich die gegenwärtige Generation ausgesetzt sieht.

Dr. Werner Kleine - Freisteller

Foto: Christoph Schönbach

Nichts ist normal, wenn Normalität zur Verheißung wird. Seit fast einem Jahr befindet sich das Land im Zustand des Nicht-Normalen. Das Corona-Virus befällt nicht nur Rachen, Lungen und innere Organe von Menschen; es verändert auch die Gesellschaft. Lockdowns, Distanzgebote und Kontaktregeln, Homeoffice und -schooling – all das sind mittlerweile „normale“ Zustände, die wohl niemand will. Aber sie sind Realität. Was ist also gemeint, wenn Politikerinnen und Politiker von einer Rückkehr zu einer verantwortungsvollen Normalität reden? Was glauben Sie denn?

Zweifelsohne gehört die Corona-Pandemie zu den größten Herausforderungen, denen sich die gegenwärtige Generation ausgesetzt sieht. Anders als frühere Generationen sind ihr größere und anhaltende Krisen bisher erspart geblieben. Es fehlen Erfahrungswerte. Stattdessen ist der Wohlstand zunehmend gewachsen. Viele haben sich einen ansehnlichen Lebensstandard erarbeitet, konnten mehrere Male im Jahr in Urlaub fahren, ein Eigenheim und ein Auto kaufen. Viele andere blieben derweil auf der Strecke. Auch das gehört eben zur „alten“ Normalität, dass der Gartenzaun zum Wohlstand gehört und diesen sichert, während andere nichts zum Sichern haben.

Es gab Zeiten, in denen es ungeschriebene Verträge gab. Die, die hatten, sorgten mit dem, was sie hatten, für die, die weniger hatten. „Solidarität“ war der fundamentale Wert – ein Wert, der sowohl in der katholischen Soziallehre als auch in der Arbeiterbewegung früherer Zeiten tief verwurzelt war. Es war normal, dass die Starken den Schwachen halfen. So konnte der soziale Friede gestärkt und letztlich auch der Wohlstand vieler begründet werden.

Der Gedanke der Solidarität ist allerdings zunehmend zu einem Bekenntnis der Lippen geworden, dem keine Taten mehr folgten. Die Schere zwischen Arm und Reich wurde größer. Aus den ungeschriebenen Verträgen der Solidarität ist der Anspruch auf Besitzstandswahrung geworden. Das ist doch normal, oder?

Beispiele für diese zur Normalität gewordenen Haltung, die die eigenen Bedürfnisse über das solidarische Handeln für das Gemeinwohl stellt, gibt es in jüngerer Vergangenheit viele. Klar: Im Corona-Lockdown fällt so manchem in den eigenen vier Wänden die Decke auf den Kopf. Es ist verständlich, dass man da an die frische Luft will. Aber muss man dafür wirklich im Pulk auf den Kahlen Asten fahren – oder würde nicht auch ein Spaziergang auf der Hardt, im Osterholz oder im Marscheider Wald ausreichen? Ein anderes Beispiel: Im Frühjahr 2020 beklatschte man aus purer Systemrelevanz von den Balkonen Pflegekräfte, Rettungsdienste und die Ärzteschaft. Künstlerinnen und Künstler leben doch bekanntlich vom Applaus. Aber diese Lohnforderungen? Das ist doch nicht normal! Oder?

Während ich diese Zeilen schreibe, laufen im Fernsehen die Bilder aus Washington. Dort stürmen Demonstranten das Capitol, weil ein Präsident ein demokratisches Wahlergebnis nicht anerkennen will. Der Eigensinn im Kleinen findet seine Entsprechung im Großen. Wer nur auf den eigenen Besitzstand und die eigenen Bedürfnisse schaut, braucht die anderen nur zu deren Befriedigung. Der Firnis gesellschaftlicher Solidarität ist dünn geworden. Diese neue Normalität treibt gefährliche Blüten ...

Die neue Normalität ist älter als die Corona-Pandemie. Die durch sie ausgelöste Krise offenbart nur, dass die gesellschaftliche Krise offenkundig tiefer reicht als Distanzregeln, Kontaktbeschränkungen und Homeschooling ahnen lassen. Ich weiß nicht, ob uns die Rückkehr zur (alten) Normalität weiter bringt. Die „neue“ Normalität bedarf des Neu- und des Umdenkens. Die Zeit dafür ist reif. Sind aber auch wir dazu bereit? Winterberg und Washington zeigen, dass noch viel zu tun ist. Macht Wuppertal etwas anders? Normal ist das alles nämlich nicht ...