Kolumne Nathan und die Loge links
Wenn einem das Theater abhanden kommt und man von Online-Aufführungen nicht satt wird, fängt man ja kompensatorisch leicht das Spinnen an
Wenn einem das Theater abhanden kommt und man von Online-Aufführungen nicht satt wird, fängt man ja kompensatorisch leicht das Spinnen an, was ja irgendwie auch gut ist und die Fantasie anregt, und so schob sich mir unlängst folgende Szene auf meinen eigenen Bildschirm oder Screen, zumal ich das Bedürfnis hatte, an Mitmenschen zu denken, Mit-Zuschauer, die sich auch etwas vorstellen, am besten gleich nebeneinander sitzend, im besten Einvernehmen.
Ich hatte, weiß gar nicht mehr wie, einen Platz im Schauspielhaus ergattert, dem an der B7. Loge oben links und beste Sicht. Ich war ja allein und brauchte nicht mal eine Maske. Ich konnte hauchen, wie ich wollte, und staunte völlig befreit nach unten auf die Bühne. Ich hätte sogar husten dürfen!
„Nathan der Weise“ wurde gegeben, wie zu Schulzeiten, Pflichttermin, als wir noch gar nicht daran dachten, dass wir am besten tolerant sein sollten. Dazu waren wir zu jung, viel zu jung. Wir dachten an uns selbst, und somit schien alles in Ordnung, wir saßen dichtgedrängt und angespannt.
Nun aber war das anders. Ganz anders. Ich saß allein, völlig unmaskiert (wozu auch?) und staunte über Nathans eindringlich vorgetragene Bitte, „Mensch zu sein, im Sinne eines bloßen Menschen“. War ich doch allein und fühlte mich bloß und nackt auf meiner Loge oben links. Da sonst niemand da sein durfte, nur zur Sicherheit, um niemanden vollzuhauchen, Sie wissen schon.
Dann schien mir, als ich genauer hinschaute, als stünde auch Nathan in seinem bühnenbodenlangen Gewand allein da, vollkommen allein, appellierte in die Regie hinein, ins Off oder sonstwohin und nicht einmal zu mir gewandt, als wäre dieses Theater eine vollständig entleerte Spielstätte. Zeiten das! Er predigte, zumindest sinngemäß, dass Glaube und Vernunft im Einklang sein sollten, und niemand, aber auch niemand stand außer ihm auf der Bühne und lauschte vorgebeugt mit offenem Mund, nicht Saladin, kein Tempelherr, ja nicht einmal Recha, seine Adoptivtochter, die ihn ja wenigstens an die Hand hätte nehmen können. Nichts. Nur ich saß gespannt und vorgebeugt oben in der Loge links.
Dann trat Nathan ab, der Vorhang fiel und ich traute mich nicht zu applaudieren, so als Einziger, und ohne Maske. Ich verließ die Loge, den Saal und das verwaiste Foyer, nicht einmal ein Taxi wartete draußen an der B7, so als habe es hier nie ein Theater gegeben.
Ich pulte meine Maske hervor, die streng genommen keine war, sondern ein Mund-Nasen-Schutz, und duckte mich nach Hause. Dachte über Tolerantsein nach, und wo das eigentlich hin war. An Schülerzeiten, als wir an sowas gar nicht dachten, es einfach waren, eng und verschwitzt im Theater sitzend und bis an die Decke dampfend.
Dann dachte ich, dass das vielleicht wieder wird, mit den Toleranzen und den vollbesetzten Sälen, und dass Nathan nicht mehr allein da auf der Bühne steht, sondern alle andern auch, damit sie uns zureden und -hauchen, gar heftig, und möglichst uns alle anstecken mit Weckrufen und Appellen.
Letztens war da ja was, aber das ist irgendwie schiefgegangen. Ich meine eher starke Sätze von Brecht und Lessing, Fassbinder und Schlingensief – lange nichts mehr von gehört. Und dass deren Worte mal wieder ins Schauspielhaus einziehen könnten, ich meine das an der B7, knapp vor der Wupper.
„Sich in einem fließenden Zustand befinden, das ist der Kern meines Theaters“, hat Schlingensief mal gesagt. Könnte ja noch was werden, hier überm Ufer. Oder?