Kultur Kulturleben in Zahlenwolken

Mir persönlich haben sich noch nie so viele luftabschnürende und kaum aufzulösende Sinnfragen gestellt wie im bald vollen Sonderjahr; nun häufen sich die Jubiläen: heute vor zwölf Monaten die letzte Lesebühne, Samstag das letzte Konzert, nächste Woche die letzte physisch präsente Vereinsversammlung.

Max Christian Graeff vom Freien Netzwerk Kultur.

Foto: C. Paravicini

Man muss genau hinschauen, aber: Es tut sich was, zumindest an den Büschen und Bäumen; es knirscht und knackt im Gebälk, voreilige Falter suchen enttäuscht nach Nektar und die Vögel sammeln im Sperrmüll der Natur ihr neues Mobiliar zusammen. Bewegung, Aufbruch, Progression – zumindest ein Gefühl davon im zähen Herumpaddeln gegen den Strom des Bewusstseins, eine Endzeit zu leben. Wohlgemerkt ein Gefühl vom Rücken des hohen Rosses aus, denn als Kulturkolumnist ist man versucht, bunte Fähnlein zu schwingen, die an der erdrückenden Mehrzahl der Lebenswirklichkeiten völlig vorbeisenden.

Mir persönlich haben sich noch nie so viele luftabschnürende und kaum aufzulösende Sinnfragen gestellt wie im bald vollen Sonderjahr; nun häufen sich die Jubiläen: heute vor zwölf Monaten die letzte Lesebühne, Samstag das letzte Konzert, nächste Woche die letzte physisch präsente Vereinsversammlung, die letzte Probe ohne das allesbeherrschende Thema – und bald der Jahrestag, an dem der Big Bang auch durchs eigene Wohnquartier schallte. Das Balkonsingen und Soliklatschen, der Biergutschein beim Lieblingswirt und die Banknote für den Wohnungslosen waren schnell verraucht, meist ohne den Gemeinten zu helfen. Seither wird definiert, dass die Schwarte kracht: eine Flut von Ziffern, Evaluationen und Bewertungen ist wohl nötig und lässt viele von uns zugleich ersaufen. 7,6 Millionen europäische Kulturschaffende machten 2019 etwa 250 Milliarden Euro Umsatz; ein Drittel brach weg, zwei Millionen Jobs sind gefährdet und die Bühnenkünste verloren gar 90 Prozent. Gut, dass es mal gesagt wird, selbst wenn diese Zahlennahrung dem Einzelnen unverdaulich bleibt und ihn fast ersticken lässt. Dazu die täglichen Skalen und Tabellen, die Entschlüsselung der Diagramme, das Planen mit den Wettervorhersagen der Pandemie: Wenn‘s nicht hagelt, klappt‘s mit 15 Leuten im April, aber nur für Lyrik in Dur. Moll oder Ölmalerei bleiben kritisch, Bildhauerei macht auf, weil eh nicht von Interesse. Kurse müssen gut vorbereitet sein, um auszufallen, weil die Cloud zusammenbricht – Rücksprung durch Technik, immerhin berechenbar. Manche machen Modelkarriere fürs Papp-Publikum in Studios und Stadien. Das Durchforsten von Förderprogrammen wird für Künstler zum Breitensport und wir lernen, bei drei Streams gleichzeitig „anwesend“ zu sein, damit nicht der Eindruck von Desinteresse entsteht; die Online-Imagepflege ist die Frisur unserer Tage.

Zugleich dehnt sich die Zeit; sie krümmt und windet sich: In einem Almanach von 1921 lese ich über den Segen der drahtlosen Telefonie und über den Widerstand gegen die Tuberkuloseimpfung. Eine 50 Jahre alte Kolumne handelt von den Sorgen literarischer Kleinpublikationen unterhalb des Handelsradars. Alles neu? Doch, manches: Während einer Doku über auftauenden Permafrost und die kommenden Pandemien lese ich Nachrichten über den Höhenflug des Bitcoins und notiere „live global, die local“; die Hoffnung hungert aus wie die Eisbären, und weil die Literatur schon längst nicht mehr Lebensmittel eines selbstbewussten Bürgertums ist, verfällt die Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen; es dominiert die Sorge um die nächste Reise an den Strand. Wir nutzen die Zwangspause der Eventkultur zu wenig für die eigentliche Bildung in uns selbst; seit einem Jahr hocken wir hinter dem Perlenvorhang der Tagessorgen und haben Angst davor, dass Veränderung in uns selbst beginnt. Der „Neustart Kultur“ besteht nicht aus Pappfiguren und Zahlen; er liegt in jeder und jedem von uns. Hoffentlich nicht begraben.