Kultur Diese Katastrophe passt in eine Tasse

Katastrophen sind nicht sonderlich dekorativ, häufig überraschend, selten ausbleibend, oft unvermeidlich, zuweilen professionell und manchmal minutiös vorhersehbar.

Wolfgang Rosenbaum schreibt für das Freie Netzwerk Kultur über ein mittelalterlich anmutendes Schicksal.

Foto: ja/Rosenbaum

Wenn ich mich mit etwas auskenne, dann sind es Katastrophen. Ich bin selber eine, eine ziemlich ausgewachsene, und ich sammle welche, seit ich denken kann. Klingt nicht nur verwegen, ist auch so. Katastrophen sind nicht sonderlich dekorativ, häufig überraschend, selten ausbleibend, oft unvermeidlich, zuweilen professionell und manchmal minutiös vorhersehbar.

Sie merken schon, ich bin Experte. Genau! Deshalb kann ich Ihnen ganz klar sagen: Sie leben in einer Katastrophe. In einer ziemlich speziellen, die von ihrer materiellen Größenordnung her in eine Kaffeetasse passt, denn mehr ist es nicht, was in Form von Viren derzeit die gesamte Welt in Atem hält und unsere Art, das Gesamtpaket Menschheit, endgültig als Opfer und Täter in der Globalisierung hat ankommen lassen. Verrückt.

Entrückt sind wir Menschen, und das mit rasanter Geschwindigkeit. Die Informationsflut hat uns verändert und die Ausbeutung von Lebewesen und Natur uns und alles in puncto Verunsicherung auf eine nie gekannte Spitze getrieben. Die aktuell konkreten Ebenen von Katastrophen, die alle unweigerlich miteinander verbunden sind, besitzen exponentielles, explosives Potential. Die zwei wichtigsten: Die gesamtgesellschaftliche Katastrophe der Globalisierung weltweit und die tief einschneidende, hochkomplexe Zerstörung des Klimas. Wir sind extrem gefordert, denn jeder für sich lebt in diesen Zentren der Katastrophen.

Der Luxus der Freiheit lockt monetär und stetig autoritärer. Dieser Haltung werden wir aber entwachsen müssen, wenn wir auf Augenhöhe alle Menschen visionär aus der Gegenwart in eine sichere Zukunft geleiten wollen. Die Welt darf nicht unflexibel sein; das Wissen ist gegeben. Gefährlich traumatisiert aus dem Gleichgewicht gefallen, halluzinieren die Monoperspektiven unsozialer Meinungen unsere Empfindlichkeiten.

Wir müssen lernen zu begreifen, die unausweichlichen Wendungen und die Vergänglichkeit zu akzeptieren sowie zu betrauern, was wir verabschieden: 70 000 Menschenleben aufgrund unserer sozialen und politischen Inkompetenz – nur in Deutschland und innerhalb von nur 13 Monaten. Von einer klar festgestellten, nicht diskutierbaren Übersterblichkeit zementiert – die nackte Realität, ein Schock der Zahlen in der CoronaPandemie. Summen stehen für Menschen, denen jede mögliche Sekunde zu gönnen gewesen wäre und denen ein würdevoller Tod verweigert wurde.

Wenn wir mitfühlende Wesen bleiben wollen, benötigen wir Trauer, Schmerz und Akzeptanz. Kollektiv und rechtzeitig müssen die Verstorbenen, die Erkrankten, die seelisch und körperlich Verletzten, die hunderttausenden Pfleger, Ärzte und Wissenschaftler erkannt, gewürdigt und respektiert werden.

An diesem Aschermittwoch ist nichts vorbei. Wir stecken mittendrin in den Sammelalben und Mamuschkas unserer Katastrophen. Wir – Du, Sie und ich – sind alle unweigerlich dazu verdonnert, mit einem mittelalterlich anmutenden Schicksal Händchen zu halten. Fangen wir an, die Verluste auf unserem Weg niedrig zu halten und um jeden einzelnen Menschen zu kämpfen. So hart es ist und so banal es in der Realität erscheint: Wir leben in einer Katastrophe, lassen sie uns endlich trauern!

„Corona-Tote sichtbar machen“ heißt die in Berlin gestartete Initiative des Schriftstellers Christian Y. Schmidt, um die Verstorbenen der Pandemie aus den Statistiken zu lösen. Die katholische Citykirche und Menschen der Wuppertaler Kulturszene beteiligen sich an dieser Aktion, damit der nahezu obszöne Umgang mit dem Tod nicht weiter dominiert. Heute um 17 Uhr findet dazu auf dem Laurentiusplatz ein kleiner Gedenkgottesdienst statt.