Lulu: So nackt und doch so fern
Premiere im Opernhaus: Darsteller beeindrucken durch körperlichen Einsatz — die Figuren bleiben jedoch unnahbar.
Wuppertal. Die Rolle hat es in sich. Jüngst wurde im Wiener Burgtheater die angekündigte „Lulu“-Premiere abgesagt, weil sich Hauptdarstellerin Birgit Minichmayr und Regisseur Jan Bosse während der Proben entzweit hatten. An der dramatischen Themenmischung — an nackter Gier, tödlichen Gelüsten und seelischen Abgründen — haben sich freilich schon ganz andere gerieben. Die männermordende Kindfrau, die Frank Wedekind in seiner „Monstretragödie“ den scheinbar unausweichlichen Gesetzen der Männerwelt aussetzt, ist immer wieder für einen Skandal gut — je nachdem, mit wie viel unverhüllter Haut sie inszeniert wird.
In Wuppertal war am Freitagabend durchaus viel Haut zu sehen — einen Skandal gab es trotzdem nicht. Vielleicht liegt es daran, dass der Großteil des Publikums mit Blick auf die drohenden Sparmaßnahmen um die Zukunft der Wuppertaler Bühnen bangt und schon deshalb mit Wohlwollen jede Premiere beäugt. Noch wahrscheinlicher ist, dass der Beifall für „Lulu“ vor allem — und zu Recht — den Darstellern galt, die im Opernhaus alles geben, auch wenn es am Ende nicht zu einem unvergleichlichen Theaterabend reicht.
Tatsache ist: Wenige applaudierten gar nicht, die meisten Zuschauer hingegen drückten ihre Anerkennung hörbar aus. So löste „Lulu“ wie schon vor zwei Wochen, bei der ersten Aufführung in Remscheid, auch bei der Wuppertaler Premiere keine überschwängliche Euphorie aus. Unter dem Strich gab es jedoch respektablen Applaus.
Wer Sybille Fabians erste Inszenierung an den Wuppertaler Bühnen gesehen hatte, war mit großen Erwartungen nach Barmen gekommen. „Der Prozess“, den Fabian vor fast genau einem Jahr höchst eindrucksvoll in Szene gesetzt hatte, war ein Erlebnis, weil das Spiel um Macht, Sex und Gewalt von einer expressiven Bildsprache befeuert wurde, bei der dem Zuschauer mehrfach der Atem stockte. Bei „Lulu“ bleibt genau diese Wirkung aus — da können die Figuren noch so jammern, jauchzen oder johlen. Das ist zwar in einzelnen Szenen beeindruckend, aber im Großen und Ganzen nicht von Bestand.
Optisch wirkt die Wedekind-Adaption wie die Fortführung der Kafka-Arbeit: Auch bei „Lulu“ setzt die Regisseurin auf Schwarz-Weiß-Kontraste und drastische Bilder. Diesmal beinhalten sie an vielen Stellen mehr Tanz als Schauspiel — was zu einem bemerkenswerten Höhepunkt führt. Mit der Pistole im Mund tanzen Dr. Schön (Michael Schmitter) und Lulu (Juliane Pempelfort) — auf dem Schlachtfeld der Liebe halten sie tragisch aneinander fest. Es ist kein Hochzeitswalzer, sondern ein zweifelhaftes Zeichen gegenseitiger Zuwendung — und die beste Szene des Abends.
Die Körperbeherrschung ist faszinierend: Neben Schmitter und Pempelfort gibt vor allem Thomas Braus eine grandiose Vorstellung ab. Als Maler Eduard Schwarz redet er sich ekstatisch in Rage und zeigt auch sonst keine Hemmungen. Im Opernhaus wird gezüngelt, gezittert und gezaudert. Auch Schön wird daran scheitern. Er stößt seine Geliebte von sich, schneidet sich damit jedoch ins eigene Fleisch — er leidet genauso wie Lulu. Das Straßenmädchen wiederum, von anderen benutzt, zugleich alles andere als unschuldig, steht oft nur mit Slip und Strumpfhose da. Lulu entblößt zwar ihren Körper, nicht aber ihre Seele. Die verstecken die triebgesteuerten Grenzgänger lieber hinter unsichtbaren Mauern.
Es dürfte in Wedekinds Sinn sein, innere Vorgänge dermaßen nach außen zu kehren. Im Opernhaus verpufft allerdings vieles. Die Figuren berühren sich lüstern, sie berühren aber nicht die Herzen. Vor allem Lulu, die berühmt-berüchtigte Skandal-Figur, die schon zu Lebzeiten Wedekinds bevorzugt als Produkt männlicher Projektionen interpretiert wurde, bleibt seltsam unnahbar — so nackt und doch so fern. So zieht sich der Abend wie eine Beziehung, an der man festhält, obwohl man längst ahnt, dass die Zeit der tiefen Gefühle vorbei ist. Schade — im Opernhaus, inmitten einsamer Seelen und unglücklicher Figuren, kommen sie gar nicht erst auf.