Ben Becker in Wuppertal Plädoyer für den berühmtesten Verräter
Wuppertal · Ben Becker begeistert in der ausverkauften Wuppertaler Friedhofskirche mit seiner Performance „Ich, Judas“.
Es geht um Verrat, um den Verrat schlechthin, seine fatalen Folgen: Antisemitismus, Judenverfolgung, Holocaust. Und um eine andere Sichtweise darauf. Ben Beckers „Ich, Judas“ soll den Sündenbock der Geschichte in ein anderes Licht rücken. Seit 2015 zieht das Enfant Terrible der deutschen Schauspielzunft mit seiner Performance durch die Lande, füllt die Kirchen, wie sie es sonst nur von Weihnachten her kennen. Gibt eine fulminante Kostprobe seiner Kunst, begeistert – und regt zum Nachdenken an. Nun machte er in der Wuppertaler Friedhofskirche Station.
Über 1000 Sitzplätze bietet das große Gotteshaus in Wuppertal, die, nach der Konstantinbasilika in Trier, immerhin die zweitgrößte evangelische Kirche im Rheinland ist. Und doch mussten immer noch weitere Stühle für die restlos ausverkaufte Aufführung aufgestellt werden. Konzentriert folgten die Besucher dem Geschehen vor dem Altar mit der gekreuzigten Christusfigur, „Sparringspartner“ des Protagonisten Judas (alias Ben Becker) an diesem Abend. Auch wenn nicht alle sehen konnten, was sich da genau abspielte – zu hören war es schon. Beckers sonorer, intensiver Bass, technisch verstärkt, erreichte jeden Winkel, ging unter die Haut. Wirkte, wenn er vom Blatt las, manchmal zu theatralisch, zu betont. Kam umso besser zur Geltung, wenn er durch eine körperbetonte Inszenierung begleitet wurde. Dann schrie oder weinte Becker, schlug auf den Tisch, tigerte im langen weißen Mantel, die Haare raufend, darum herum. Dazwischen an der Orgel Werke von Bach, die die besondere Atmosphäre von Ort und Thema unterstrichen, die einführten, einen Rahmen gaben, Zeit zum Nachhall des Erlebten verschafften.
„Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.“ Becker stellte den bekannten Satz aus dem Matthäus-Evangelium über Jesu Ansprache beim Abendmahl seinem Programm voran, bevor er sich dem ersten zentralen Werk widmete: Amos Oz’ Roman “Judas“, der 2015 in deutscher Übersetzung erschien.
Eine Liebesgeschichte und ein Buch über das geteilte Jerusalem vor dem Sechs-Tage-Krieg, über die Frage nach einem gemeinsamen Land für Juden und Palästinenser. Darin ein eigenes Kapitel, das die Kreuzigung aus der Sicht des Judas erzählt. Der treueste Jünger Jesu erhängt sich nach dessen Tod, weil er ihn mehr liebt als Gott, mehr an ihn glaubt als dieser selbst.
Walter Jens geht weiter. Er schrieb 1975 ein flammendes Plädoyer, das in der Forderung nach der Aufhebung des Schuldspruchs gipfelt. Eine große Aufgabe für einen Schauspieler, ein tiefer Blick in die Geschichte, deren Wucht und Zusammenhänge, die damals nicht ohne Wirkung blieb und auch heute noch wert ist, bedacht zu werden.
„Die Verteidigungsrede des Judas Ischariot“ macht diesen zum wichtigsten Werkzeug Gottes, einen Mitwirkenden der Kreuzigung, ohne den es diese und damit auch keine Auferstehung, keine Erlösung, keine Kirche gegeben hätte. „Ich, der einzige, der ihn verstand“, „von Gott auserwählt, den Verworfenen zu spielen“, stellt sich der Verteufelung des Judas entgegen, zu der anfänglich besonders das Johannes-Evangelium beitrug. Eine Verteufelung, die fatale Folgen für die Juden haben sollte. Bis heute, da auch in Deutschland der Antisemitismus wieder/noch zuhause ist.
Anlass für Becker, in Wuppertal an seine Großmutter Claire Schlichting zu erinnern, die 1905 in Elberfeld geboren wurde. Der Vater der Schauspielerin war Jude, sie mithin nach Nazi-Doktrin jüdischer Mischling. 1941 wurde sie denunziert und gedemütigt, entkam mit Mann und Kindern nach Kopenhagen.
Der persönlichen Erinnerung Beckers folgte der flammende Vorwurf ins Kirchenrund, an die Menschen, die „einfach weitermachen“, den Geißens bei ihrem Luxusleben im Fernsehen zuschauen, während im Mittelmeer verfolgte Menschen in ihren Schlauchbooten um ihr Leben kämpfen.
Der direkten Ansprache folgte die rhetorische Frage: „Was wäre, wenn Judas Jesus nicht verraten hätte. Kein Pogrom, kein Lager, kein Gas – aber auch keine Kirche, keine Botschaft von der Erlösung. Gedanken, die nachhallen, nicht zuletzt weil Ben Becker sie nahebringt.