Theater Bezüge und Misstrauen
Albert Camus’ „Das Missverständnis“ feierte Premiere im Theater am Engelsgarten.
„Mir kommt hier alles seltsam vor.“ Kein Wunder: Die Pension, in die der junge Jan sich einmietet, ist entschieden ungewöhnlich, sogar tödlich. Doch in der Inszenierung „Das Missverständnis“ von Albert Camus ist er der Eindringling in einen Kosmos, und er verschweigt, dass er Sohn und Bruder der Bewohnerinnen ist. Seltsam finden kann er sie nur, weil er und sie in zwei Welten leben.
Martin Kindervater als Regisseur hat Hand in Hand mit Bühnenbildnerin Anne Manns gearbeitet, und das ist deshalb wichtig, weil es einen Bezugsraum eröffnet: Das Team hat vorige Spielzeit „Die Glasmenagerie“ von Tennessee Williams gezeigt. Wo dort der Sohn am Ende das Haus verlässt, der gedrückten Lage im Bann des abwesenden Vaters überdrüssig, kommt bei Camus der verlorene Sohn inkognito zurück. Und so sind die scheinbar heimeligen Gasträume auf der Bühne im Theater am Engelsgarten opulent und atmosphärisch – und voller Anspielungen. Unabhängig davon läuft hier ein bizarres Kammerspiel des Unverbundenen. Die Inszenierung lässt beide Welten nebeneinander bestehen.
Ein Mörderduo und ein argloses Opfer: Wären wir nicht bei Camus, es könnte ein Krimi-Setting sein. Doch es geht trotz Gifts nicht um „Arsen und Spitzenhäubchen“, gut existenzialistisch geht es um alles. Gut - böse? Camus sprach den französischen Widerstand seiner Zeit an mit dem Versprechen, dass Verbrechen sich am Ende gegen Täter wende.
Eine Inszenierung, die zwei Welten nebeneinander bestehen lässt
Doch sind Tochter und Mutter nur Täter? Nicht dass die eiskalte Martha Mitleid verdienen würde; aber im Vorwort fordert der Autor auch Aufrichtigkeit - was an Jans Adresse gehen muss. Und Konstantin Rickert legt Jan, den Heimkehrer, als Fremden an, der in einen kleinen Kosmos einbricht. Nichts vom Vertrauen, wie es die Geschwister in der „Glasmenagerie“ auszeichnet, ganz im Gegenteil: Im Gespräch mit Martha ist im Grunde nicht zu erkennen, ob er ihr Bruder ist oder nur ein verwunderter Gast. Eine für sich plausible Geschichte könnte es sein und funktioniert selbst ohne Bezug. Kurz und knapp: Ein Reisender kommt unter, kommt dazwischen, kommt um. Die zweite Ebene liefern die Frauen.
Mutter und Tochter sind routiniert in ihrem Einverständnis – verschworen, verschwörerisch. Julia Wolff ist als Mutter Pragmatismus pur und gerade in ihrem unerschütterlichen Phlegma zuweilen komisch. Besonders Vogt ist die Fleisch gewordene Meta-Ebene. „Sie haben nicht das Recht, sich nach unserer Einsamkeit zu erkundigen“, spricht sie fast ätherisch, während sie handfest in seinem Zimmer sitzt. Dritter im Bunde der Hausgemeinschaft ist der alte Knecht, eine halb surreale Figur, die das langjährige Ensemblemitglied Hans Richter spielt – ein Beobachter mit Abgründen.
Wieweit man die Parallelen wahrnimmt, ist zweitrangig. Wer die „Glasmenagerie“ kennt, mag erwägen, dass dort statt des Sohnes womöglich andere Figuren für den Vergleich taugen. Erst abwesend, dann Einbrecher ist heute Jan. Oder die Requisiten: Wenn der Flamingo von Williams in den Camus-Kosmos flattert und wie maliziös des Kommenden harrt. Unausgesprochen liegt der Bezug wie die Bedrohung nur in der Luft.