Aufführung Nie endende Sehnsucht nach Nähe und die Angst davor

Das Tanztheater Wuppertal führt Pina Bauschs letztes Stück „...como el musguito en la piedra, ay si, si, si...“ in der Oper auf.

Synchrone Bewegungen zum Wohlfühlen sind wichtiger und attraktiver Bestandteil des Stücks.

Foto: Laszlo Szito

Der Titel ist lang und etwas sperrig, zumindest wenn man des Spanischen nicht mächtig ist. Deshalb wird dieses Werk auch gerne und kurz das „Chile-Stück“ genannt. „...como el musguito en la piedra, ay si,si,si...“ ist Pina Bauschs letzte Arbeit, es wurde am 12. Juni 2009, gute zwei Wochen vor ihrem Tod, in Wuppertal uraufgeführt. Weshalb es bis heute unbeantwortete Fragen nach seiner Intention und Einordnung im Lebenswerk gibt. Dabei ist „Wie das Moos auf dem Stein“ (so die deutsche Übersetzung) bei aller Inhaltsschwere, die durch die Themen der Choreographin und das Land entstehen, das es porträtiert, ein beschwingtes und gelassenes Stück. Am Donnerstag eröffnete das Tanztheater damit die Spielzeit und seine „Nacht für Pina“ im Opernhaus.

Im Februar 2009 bereiste die Compagnie zwei Wochen lang das zwar von der Militärdiktatur befreite, aber nach wie vor unter seiner unbewältigten Vergangenheit leidende Land. Man sammelte tiefe Eindrücke, die zuhause in virtuose, ausdrucksstarke Tanzszenen, darunter ungewohnt viele Soli, mündeten. Das Chile-Stück lebt von ihnen, nur selten gibt es Sprecheinlagen.

Minimalistisch ist das Bühnenbild von Peter Pabst, das eine schwarz umrandete Fläche zeigt. Der Boden ist weiß, kann an die Atacama-Wüste, die trockenste Wüste der Erde außerhalb der Polargebiete, erinnern. Immer wieder tun sich Spalten auf – Sinnbild der gesellschaftlichen Zerrissenheit des Landes, aber auch der tektonischen Platten, die sich verschieben und zu Erdbeben führen können. Chilenische Spuren finden sich außerdem in der Musikauswahl mit ihren oft stark rhythmischen oder folkloristischen Klängen. Auch der Titel, eine Zeile aus dem Lied „Volver a los 17“ der Sängerin Violeta Parra über die Sehnsucht nach dem Unwiederbringlichen, stammt aus Chile.

Die Spalten im Boden
schließen sich immer wieder

Zerrissenheit ist ein wichtiges Thema bei Pina Bausch. Die Menschen schwanken auf der Suche nach dem Glück zwischen der Sehnsucht nach Liebe und Zweisamkeit und der Angst vor Nähe. Sie sind hilf- und ortlos, wie die Frau, die anfangs und am Ende verunsichert auf allen Vieren auf der Erde kauert. Als sie von Männern aufgehoben und auf der Bühne hin und her getragen wird, schreit sie entsetzt. Oder der Mann und die Frau, die allein und verloren auf der Bühne stehen, zaghaft hin und hergehen, pfeifen und rufen, bis endlich die anderen kommen und ihnen Geborgenheit geben. Die vermittelt auch die sitzende Wohlfühlpolonaise, bei der man einander liebevoll über das Haar streicht. Ein Andermal wandert eine liegende Männerpolonaise quer über die Bühne, man legt den Mantel wie zum Schlaf über den nächsten.

Angst, Not, Schmerz, auch Aggression werden auch in diesem Stück thematisiert, keiner entkommt seinem Schicksal. Doch der Blick darauf ist weniger hart, weniger ausweglos, eher humorvoll und nachsichtig. Zwei Männer machen Sit-ups und Liegestütze, während sich eine Frau in Pose über sie legt, die schweißtreibende Szene erntet ausgelassene Lacher. In einer Reihe legen sich die Tänzerinnen auf den Bauch, machen, das Publikum lächelnd im Blick, synchrone Kopf und Hand-Bewegungen, die Männer tun es ihnen nach, so dass ein attraktiver Kanon entsteht. Auf den Kuss folgt die Ohrfeige, auf die Ohrfeige der Handkuss. Und die verschmitzte Aussage: „Of course I’m weiblich“. Macho-Komplimente werden auf spielerische und vorwurfsfreie Art entlarvt. Pinas Männer dominieren nicht mehr, ihre Frauen sind selbstbewusster geworden. Paare umfassen und schwenken einander, einfühlsam, verspielt. Das neckische Spiel ums Heu im hochgehaltenen Rock endet im Kuss unterm Heuregen. Die Umarmung überwindet den Ast, den er und sie zwischen sich halten. Und der gespaltene Boden schließt sich immer wieder, wird von den hinreißend sich bewegenden Tänzern negiert.

Im Begleitheft zur Aufführung wird gefragt, ob Pina Bausch eine Todesahnung, ein Gespür für die bevorstehende Erschütterung in das Stück einfließen ließ. Die Antwort mag jeder sich selbst geben.